kai
Matuszkiewicz
Göttingen

Wer erzeugt die Geschichte?

Mediale und personale Narrationen in digitalen Spielen

Narration und Erzähler

Narrationen spielen als Kulturtechnik eine signifikante Rolle. Sie dienen der Informationsvermittlung, der Kommunikation, der Gemeinschaftsbildung, der Tradierung von Wissen oder schlicht der Unterhaltung. Erzählungen kommen in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in verschiedenen Formen vor. Primär orale Kulturen tendieren beispielsweise zur mündlichen Erzählung, bei der ein realer Erzähler einem direkt anwesenden (und meist kleinen) Publikum eine Geschichte erzählt. Wenn man so will, dann hat man es hier mit der frühesten, unmittelbarsten und ›ursprünglichsten‹ Form des Erzählens zu tun. Dies wandelt sich, sobald der Adressatenkreis größer und dispers wird. Nur an ein Medium wie einen Roman, einen Spielfilm oder einen Comic gebunden kann eine Erzählung räumliche und zeitliche Grenzen überschreiten.1 Hierdurch verändert sich aber zugleich die Bedeutung des Erzählers, der als Erzähler im wörtlichen Sinne noch die erzeugende Entität der Narration ist. Im Medium aber kommt der Erzähler nur noch als ein Konstrukt, als eine vermittelnde Instanz des narrativen Modus vor, sodass die Narration und der Erzähler ›auseinanderfallen‹.2

Unter dem Einfluss einer Kultur, die vornehmlich unter dem Textparadigma steht, entstanden im 20. Jahrhundert in Europa und den USA literaturwissenschaftliche beziehungsweise erzähltheoretische Modelle, die sich primär an narrativen Texten orientieren. Diese Modelle leisten die Beschreibung und Analyse von Erzählen in einem bestimmten (textuellen) Medium, sie lassen aber nur induktive Schlüsse auf das Erzählen im Allgemeinen zu.3 Diese Unterscheidung zwischen Erzählen in einem bestimmten Medium und Erzählen als Kulturtechnik ist unter anderem im Kontext ›Neuer Medien‹ zentral und bedauerlicherweise nicht immer (auch in den betreffenden Forschungsdiskursen) präsent, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob etwas (primär ein Medium) narrativ ist oder nicht.4 Wir Menschen sind derart daran gewöhnt, unser Leben narrativ zu erfahren und narrativ zu verarbeiten, dass wir zuweilen übersehen, dass es neben dem narrativen Modus noch viele andere Modi der Vermittlung und Wirklichkeitserfassung gibt. Entscheidend ist aber, dass wir (damit einhergehend) vergessen, dass Narrationen nicht nur literarisch oder filmisch erzeugt werden, sondern dass die dominanteste erzählerische Instanz immer noch der Mensch selbst ist. Häufig schreiben wir Narrationen, die wir selbst erzeugen, Medien oder Phänomenen zu, die keinesfalls im Zuge ihrer Vermittlung auf den narrativen Modus zurückgreifen. Es muss ein deutlicher Unterschied zwischen von Medien vermittelten Narrationen und jenen gemacht werden, die von Personen erzeugt werden.5 Kaum ein Medium hat dies in den vergangenen Jahren so deutlich werden lassen wie das digitale Spiel. Denn in vielen Diskursen, in denen es um die narrativen Potenziale von digitalen Spielen geht, wird bislang weitestgehend auf derartige Unterscheidungen verzichtet, was dazu führt, dass narratologische Begriffsverwendungen in den Digital Game Studies zu weit ausgreifen. Aus diesem Grund möchte ich die Unterscheidung zwischen medialen (als medial vermittelten) und personalen (als personal erzeugten) Narrationen auch am Beispiel dieses Mediums vorstellen.6 Allerdings sollte sogleich angemerkt werden, dass eine absolute Unterscheidung zwischen medialer und personaler Narration zuweilen diffizil ist. Die literarische Erzählung eines (an einen Kodex gebundenen) Romans kann man unschwer als mediale und die mündlich aus dem Gedächtnis vorgetragene (narrativierte) Geschichte des letzten Urlaubs ebenso problemlos als personale Narration identifizieren. Was passiert aber, wenn die personale Narration als Kulturtechnik in interaktive Medien integriert wird, wo sie mit dem narrativen Modus des Mediums zusammenwirkt? Wie untersucht man solche Hybridisierungen verschiedener Narrationstypen? Dies zu beschreiben, ist ein Desiderat hybrider Theoriemodellbildung von Medien- oder Erzähltheorien ›Neuer Medien‹. Was diese Fragen aber schon jetzt zeigen, ist, dass es nicht sinnvoll ist, die Unterscheidung zwischen medialer und personaler Narration als absolut zu betrachten. Vielmehr handelt es sich um eine heuristische Differenzierung, die darauf abzielt, gerade die Hybridisierungen unterschiedlicher Narrationstypen beschreibbar zu machen, indem ein Bewusstsein für deren Grenzen wie Möglichkeiten geschaffen wird.7

Es ist das Anliegen dieses Artikels, anhand der vorgeschlagenen Unterteilung zu einer differenzierteren Betrachtung der Narrativität digitaler Spiele zu gelangen. Dazu wird zuerst ein Überblick über Narration in digitalen Spielen im Allgemeinen gegeben, um daran anschließend im Besonderen auf die bisherige Forschung in den Digital Game Studies einzugehen, auf der die Unterscheidung zwischen medialer und personaler Narration aufbaut. Um die Charakteristika medialer und personaler Narrationen in digitalen Spielen exemplarisch aufzuzeigen, werden zwei Beispiele aktueller digitaler Spielproduktionen herangezogen, die als idealtypisch für den jeweiligen Narrationstyp gelten können. Als Exempel für eine mediale Narration wird mit Beyond: Two Souls (2013) ein digitales Spiel gewählt, das die medial narrative Vermittlung massiv in seine mediale (Spiel-)Struktur integriert. Auf der anderen Seite fungiert mit Mario Kart 8 (2014) ein digitales Rennspiel als Beispiel einer personalen Narration, das weder narrative Elemente implementiert, noch auf den narrativen Modus zur Vermittlung zurückgreift. Eine Narration von Mario Kart 8 geht also immer vom Spielenden und nicht vom System aus. Abgeschlossen wird der Artikel mit einem Vergleich zwischen medialer und personaler Narration, der die Unterschiede beider Narrationstypen gegenüberstellt, hierdurch zugleich aber Ansatzpunkte für anschließende Forschungen bietet, vor allem dann, wenn diese sich digitalen Spielen unter dem Aspekt ihrer interaktiv-narrativen Hybridität zuwenden wollen.

Narration in digitalen Spielen

Seit den Anfängen der Digital Game Studies spielen Narrationen in digitalen Spielen für die Forschung – vor allem im Kontext literatur- und medienwissenschaftlicher Zugänge – eine immense Rolle. Auch nach dem Ende der berüchtigten Narratologen-Ludologen-Debatte8 sind zahlreiche Fragen nach der Narrativität digitaler Spiele weiterhin ungeklärt. Dementsprechend unterschiedliche Begriffsverwendungen narratologischer Termini lassen sich finden. So weist Fotis Jannidis beispielsweise auf die doppelte Bedeutung des Ausdrucks Narration im Forschungsdiskurs hin: »A problem in the discussions seems to be the double meaning of the term narration […]. On the one hand narration signifies the medial representation of a self-contained storyline; on the other hand it means a sequence of chronologically ordered and causally linked events.«9

Im ersten Fall handelt es sich also um die mediale Repräsentation (als erzeugender Vorgang) eines vorgefertigten Narrativs, wohingegen im zweiten Fall das Narrativ10 selbst gemeint ist, wenn man darunter die fest definierte narrative Grundstruktur einer Narration versteht, die aus einer Verkettung von Kardinalfunktionen sowie gegebenenfalls Katalysen besteht.11 Jannidis macht damit zwar deutlich, dass die Narration als mediale Repräsentation auf ›eingebetteten‹12 Narrativen beruht, stellt in seinen Ausführungen zur zweiten Begriffsverwendung der Narration in den Digital Game Studies aber nicht explizit heraus, dass neben der sequentiellen Abfolge an sich besonders der Spielende als diese Abfolge erzeugende Instanz ins Zentrum des Erkenntnisinteresses rückt. So betont Britta Neitzel: »Spiele lassen sich erzählen, genauer: nacherzählen. Die jeweilige Erzählung ist von den vorher gespielten Partien abhängig.«13 Neu am digitalen Spiel scheint dementsprechend weniger zu sein, dass es Plots erzeugen kann, sondern dass es dem Spielenden gestattet, diese selbst zu generieren. Greift man auf die klassische Erzähltheorie strukturalistischer Prägung in Person Gérard Genettes zurück und betrachtet die Narration dementsprechend als »produzierenden narrativen Akt«,14 so wird evident, dass vor allem die Erzeugung beziehungsweise die erzeugende Instanz der Narration selbst maßgeblich ist. Im Prozess der konkreten Erzeugung der Narration in digitalen Spielen treten zwei verschiedene Akteure zutage, die beide als Entitäten eine Narration erzeugen können – das Medium und die (spielende) Person. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, zwischen medialen und personalen Narrationen in digitalen Spielen zu differenzieren. Entscheidend für die Evaluation der erzeugenden Instanz einer Narration ist somit jene Entität, welche diese konkret generiert. Damit geht aber auch eine bedingte Absage an narratologische Konzepte der Vermittlung, wie dem des Erzählers einher, der seit dem Auftreten postmoderner Erzählungen und der postklassischen Narratologie zunehmend zum problematischen Analysekriterium wird:

Here we are faced once more with the question of what the important, ultimately even decisive features of the prototype are. In particular, the question of whether every form of a narrative must have a narrator – a source behind the utterance, behind the discourse – is not exactly trivial when it comes to defining what narratologists study. Reviewing contemporary approaches to this question, we find that there is an overwhelming consensus that the narratorial instance should be dispensed with.15

Die Frage nach dem heuristischen Mehrwert einer (narrativen) Instanz wie der des Erzählers wird virulenter, wenn man im Kontext einer transmedialen Narratologie die unterschiedlichen narrativen Potenziale und Ausgestaltungen von Medien betrachtet. So stellt sich mit Blick auf ein digitales Spiel zum Beispiel die Frage, ob, wie Neitzel andeutet, die Hierarchie klassischer Erzählungen in ›Neuen Medien‹ zunehmend aufweicht, sodass auch dem Spielenden erzählerische Kompetenzen zukommen. Darüber hinaus führt die Hypermedialität des Mediums, die Remedialisierung16 anderer Medien wie Film, Musik et cetera dazu, dass nicht nur ein Voice-over-Erzähler zur narrativen Vermittlung infrage kommt, sondern auch narrative Cutscenes oder die Bildlichkeit des Mediums. Des Weiteren, und dies wird häufig übersehen, besitzen programmierbare Medien, vor allem mit Bezug auf ihre weiter zunehmende künstliche Intelligenz, selbst erzählerische Funktionen und Autonomie.17 Letztlich bedeutet diese Zersplitterung der narrativen (medialen) Vermittlungsinstanz, dass es für die Forschung nicht primär gilt, nach einem Erzähler zu suchen und diesen zu konstruieren, sondern dass es sinnvoll scheint, die Vielgestaltigkeit des medialen Erzählens digitaler Spiele unter dem Aspekt der medialen Narration zu vereinen und als Teil des narrativen Modus digitaler Spiele zu betrachten. Hierdurch wird eine präzisere Trennung zwischen Narrationen, die vom digitalen Spiel ausgehen und jenen, die vom Spielenden erzeugt werden, möglich.

Mediale und personale Narration in digitalen Spielen

Frühe theoretische Vorstöße in diese Richtung finden sich beispielsweise bei Spieldesignern wie Richard Rouse, der zwischen den Geschichten des Designers und den Geschichten des Spielenden unterscheidet und bei Marc LeBlanc, der zwischen »embedded« und »emergent narratives« differenziert.18 Der Begriff »embedded narratives« bezeichnet all diejenigen Narrative, die bereits in der Spielstruktur angelegt, in sie implementiert sind,19 wohingegen »emergent narratives« solche Narrative umfasst, die beim Spielen vom Spielenden im Zusammenspiel mit dem System erzeugt beziehungsweise auf dieses übertragen werden.20 Gordon Calleja führt die Idee des »emergent narrative« weiter aus, verwendet aber den Begriff »alterbiography […] to refer to the here and now interactions with the game environment that generate story through the player’s interpretation of events occurring within the game environment, their interaction with the game rules, human and AI entities and objects«.21

Calleja betont damit, dass es sich bei diesen Geschichten also nicht um Narrationen handelt, die vom Medium ausgehen, die in seine Programmstruktur eingeschrieben sind, sondern um Narrationen, die dem Spiel vom Spielenden zugeschrieben werden, indem er die gespielte Ereignisfolge narrativ interpretiert und somit sein Spielerlebnis narrativiert. Auf diese Weise können digitale Spiele, die keine narrativen Elemente wie narrativen Modus, Erzähler, Diegese, fiktive Figuren et cetera beinhalten, dennoch narrativ gedeutet werden. All diese Konzeptualisierungen haben gemein, dass sie eine Dichotomie aufbauen, die versucht, dem Ursprung einer Narration im Kontext digitaler Spiele Rechnung zu tragen. Hieran möchte ich anschließen und Definitionen beider Narrationstypen anbieten:

Unter medialer Narration sind alle Formen der Narration zu verstehen, die das Medium digitales Spiel im Rahmen seiner Repräsentation und Vermittlung einsetzt, um das Spielgeschehen an den Spielenden zu vermitteln und dieses darzustellen. Da mediale Narrationen auf ›eingebetteten‹ Narrativen beruhen, sind sie in die Programmstruktur des Spieles fest eingebunden. Von personaler Narration hingegen ist zu sprechen, wenn der Spielende (simultan oder retrospektiv) sein Spielerlebnis mithilfe eines ›emergenten‹ Narrativs narrativiert. In diesem Zusammenhang ist die Narration also kein Aspekt der medialen Vermittlung und Repräsentation des Mediums.22

Um den Differenzen zwischen beiden Formen der Narration nachzugehen, werde ich mich nun exemplarisch den beiden Beispielen zuwenden. Anhand dieser möchte ich einige bedeutende Unterschiede zwischen medialer und personaler Narration herausstellen.

Beyond: Two Souls

Beyond: Two Souls eignet sich zur Illustration einer medialen Narration in digitalen Spielen, da seine narrative Ausprägung selbst für ein narrationsaffines Genre wie das Action-Adventure ungewöhnlich intensiv ist, sodass es nicht selten zum Genre Interaktiver Filme gerechnet wird.23 Die Struktur des ›eingebetteten‹ Narrativs ist schnell beschrieben. Jodie Holmes (Ellen Page) kommt bereits als Kind in die Obhut eines Forschungsinstituts für paranormale Aktivitäten unter der Leitung von Nathan Dawkins (Willem Dafoe). Die Gründe hierfür sind im Allgemeinen Jodies Beziehungen zu einer Parallelwelt namens »Infrawelt« sowie deren »Existenzen« und im Besonderen ihr geisterhafter Begleiter Aiden. Jodies übernatürliche Fähigkeiten führen sie schließlich zur CIA und nach einer Mission in Afrika, die Jodie moralisch nicht vertreten kann, zum Bruch mit der CIA und ihrer Flucht vor dieser. Die Flucht, alle ihre Schauplätze und die Figuren, die sie auf ihrer Flucht trifft, nehmen einen großen Teil der Erzählung ein und münden schließlich in ein Finale mit zahlreichen möglichen ludischen Ausgängen und narrativen Handlungsenden.  

Um eine pointierte vergleichende Analyse zu liefern, werde ich mich bei meinen Ausführungen lediglich auf das ›eingebettete‹ Narrativ des Spiels beschränken, welches Abbildung 1 zeigt und das im Spiel als Ladebildschirm zwischen den einzelnen Spielabschnitten erscheint, dem Spielenden somit zugleich seinen Spielfortschritt wie auch die aktuelle Position des Spielgeschehens im Narrativ kommuniziert.

Abb. 1: Das Narrativ von Beyond: Two Souls

Die einzelnen Punkte, die man hier sieht, sind (ludisch gesehen) die Missionen, in die das Spiel spielstrukturell unterteilt ist, zugleich sind es aber (narrativ betrachtet) die Kardinalfunktionen des Narrativs, das Jodie Holmes Leben von ihrem achten Lebensjahr bis in ihre Mittzwanziger erzählt.

Besonders ist hierbei, dass sich die konkrete Realisierung der Kardinalfunktionen in der Narration nach den Entscheidungen des Spielenden richtet, das heißt wann und wie eine Kardinalfunktion abgerufen wird, orientiert sich daran, wie sich der Spielende in der oder den vorherigen Spielsituationen entschieden hat. Wir haben es hier also mit einem Narrativ zu tun, das sich in einem hohen Maße an den ludischen Interaktionen des Spielenden orientiert. Bemerkenswert ist auch, dass wir zwar nur ein Narrativ, nur eine narrative Grundstruktur haben, dass die anachronistische Erzählweise aber dafür sorgt, dass dieses eine Narrativ auf mehrere Arten in verschiedene Plots (als Spieldurchläufe) umgesetzt werden kann oder anders gesagt: Es gibt ein ›eingebettetes‹ Narrativ, aber mehrere mögliche mediale Narrationen, die sich in verschiedenen Plots als Ergebnis der konkreten Realisierung niederschlagen. Die Repräsentation und Vermittlung von Spielinhalten via Narration ist hier also eindeutig medial, da sie nicht nur in der Programmstruktur enthalten, sondern auch mit der ludischen Struktur von Beyond: Two Souls eng verbunden ist. Unterstrichen wird die mediale (ins Medium eingeschriebene) Narrativität dieses digitalen Spiels durch einen extensiven Gebrauch von Cutscenes, eine erhebliche diegetische Aufladung der Spielwelt, eine deutliche narrative Profilierung der Spielfiguren sowie die massive Implementierung filmsprachlicher Ausdrücke und film­isch­er Erzähltechniken (Kameraperspektiven, Einstellungsgrößen, Montageverfahren). Das ist bei Mario Kart 8 völlig anders.

Mario Kart 8

Mario Kart 8 ist ein Rennspiel beziehungsweise dessen Subgenre des Funracers zuzurechnen, das im Vergleich zu klassischen digitalen Rennsimulationen wie GTR (2004ff) nicht so sehr die agonale Struktur des Wettstreits betont und eine ›authentisches‹ Renn­erlebnis anstrebt, sondern durch das Spielen von Nintendos familienfreundlichen und niedlichen Avataren als Fahrern sowie deren figurengebundenen Spielwelten bewusst den Spielspaß der Spielenden in den Vordergrund rückt. Zusätzlich erweitert Mario Kart 8 das Spielerlebnis im Unterschied zu traditionellen agonalen Rennspielen um ›alea‹-Komponenten,24 indem der Spielende in den wohlbekannten Fragezeichenboxen zahlreiche Items finden kann, deren primäre ludische Funktion es ist, dem Spielenden trotz mangelndem fahrerischen Können Positionsgewinne zu ermöglichen. Der Spielende kann auf zahlreiche Spielmodi wie Zeitfahren, Spaßwettkämpfe oder Grand Prix zurückgreifen. Das spielstrukturelle Rückgrat des ›ludus‹ bildet dabei traditionell der Grand Prix-Modus, dessen Auswahlmenü Abbildung 2 zeigt, da man über die dortigen Erfolge neue Avatare freischalten sowie das Spiel im herkömmlichen Sinne bis zu den Credits ›durchspielen‹ kann.25

Abb. 2: Grand Prix-Auswahl in Mario Kart 8

Insofern ist der Grand Prix als dem Spiel strukturgebende Instanz mit dem eben gezeigten Narrativ aus Beyond: Two Souls vergleichbar. Was beide aber unterscheidet, ist das Fehlen von narrativen Elementen in Mario Kart 8, die für eine narrative Ausgestaltung des Spiels notwendig wären. Es sind zwar Figuren vorhanden und auch eine Welt, allerdings sind diese Figuren als Spielfiguren angelegt, als Schnittstelle zwischen Spielendem und Spielgeschehen und nicht als narrative Charaktere und die Spielwelt hat ebenso eher einen simulativen26 als einen diegetischen Charakter. Auch die vorliegende Grundstruktur, anhand derer sich der Spielverlauf orientiert, ist eher von Spielmechaniken, Spielregeln und Spielrhetoriken geprägt als von narrativen Kausalitäten und Gesetzen.

Jedwede Narration, die mit dem Spielen von Mario Kart 8 zusammenhängt, ist also nicht medialer sondern personaler Natur, da ›eingebettete‹ Narrative nicht nachzuweisen sind. Je nachdem, wie das Spiel verläuft, kann der Spielende aber unterschiedliche ›emergente‹ Narrative einsetzen, um seine persönliche Geschichte zu erzeugen. Zwei Beispiele anhand des Grand Prix-Modus:

  1. Der Spielende erreicht im Grand Prix die folgenden Platzierungen (4., 3., 2., 1.) und sichert sich am Ende denkbar knapp den Gesamtsieg. Unter Hinzunahme eines Aufstiegsnarrativs wie des ›American Dreams‹ kann der Spielende sein Spielerlebnis retrospektiv narrativierten und sich wiederholt als die Erfolgsgeschichte eines Außenseiters erzählen, der dank harter Arbeit in einem fulminanten, dramatischen Finale doch noch den nicht mehr für möglich gehaltenen Gesamtsieg erringt.27
  2. Der Spielende erreicht im Grand Prix die folgenden Platzierungen (1., 1., 1., 12.) und verpasst am Ende den Gesamtsieg nur denkbar knapp. Mit Rückgriff auf ein Verfallsnarrativ wie Thomas Manns Buddenbrooks kann der Spielende sein Spielerlebnis als die Geschichte eines erfolgreichen Rennfahrers interpretieren, der durch Pech oder Unvermögen den sicher geglaubten und verdienten Gesamtsieg verfehlt und wie ein tragischer Held scheitert.

In beiden Fällen wird ein unterschiedlicher Spielverlauf mit unterschiedlichem Spielausgang mithilfe unterschiedlicher ›emergenter‹ Narrative, die zum Spielverlauf wie -ausgang passen, narrativiert. Die Erzeugung einer personalen Narration ist dementsprechend ein interaktiver Prozess, der sich zwischen narrativierendem Subjekt, narrativierter Entität und dem zur prozessual-prozeduralen Form der narrativierten Entität passenden ›emergenten‹ Narrativ abspielt. Personale Narrationen treten aber nicht nur im Zusammenhang mit digitalen Spielen auf, sondern durchziehen unseren Alltag. Anhand personaler Narrationen kann man prinzipiell jedes Phänomen und jedes Erlebnis unter der Prämisse narrativieren, dass es sich prozessual-prozedural28 beschreiben lässt. Diese Narrationen sind keine medialen Repräsentationsmodi wie die mediale Narration, sie sind Modi der Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung sowie Sinnkonstitution. Die personale Narration ist eine Kulturtechnik, die meistens retrospektiv vorkommt, aber auch simultan erfolgen kann, wenn eine Kompatibilität zu einem bekannten ›emergenten‹ Narrativ vom Spielenden intuitiv hergestellt werden kann und Spielverlauf wie -ausgang dies zulassen.

Die personale Narration funktioniert im Wesentlichen durch die Eigenschaft von Erzählungen, die reale Komplexität fiktional zu reduzieren bzw. Abstrakta zu konkretisieren, um komplexe, abstrakte Zusammenhänge und Abläufe besser verstehen und einordnen zu können. In der personalen Narration wird ein Vorgang auf seine Grund­elemente heruntergebrochen, das heißt auf eine simple (meist physische) Handlung reduziert, welche dann narrativ funktionalisiert wird. Ein Beispiel: Der Spielende gewinnt das erste Rennen im Grand Prix-Modus ungefährdet, indem er das Rennen von Beginn an dominiert. Im Sinne einer strukturalen Erzählung wird hieraus die Kardinalfunktion »Spielender(Avatar) gewinnt (souverän) das erste Rennen« geformt. Dies kann retrospektiv geringfügig abgeändert oder um Katalysen erweitert werden, je nachdem, wie das Spiel weiterhin verläuft. Erfolg oder Misserfolg, verdiente oder unglückliche Niederlage, jeder mögliche Ausgang erzeugt eine andere (narrative) Kausalität, wodurch sich letztlich die zu wählenden ›emergenten‹ Narrative unterscheiden.

Exkurs: Personale Narrationen jenseits digitaler Spiele

Aufgrund ihrer prozessualen Prozeduralität sind digitale Spiele unter den weitverbreiteten populärkulturellen Medien sicherlich diejenigen, die am prädestiniertesten scheinen, um dem Rezipienten Freiraum für personale Narrationen im Kontext der medialen Rezeption zu lassen. Ursächlich hierfür könnte sein, und erste Studien wie die von Markus Engelns legen dies nahe, dass digitale Spiele, auch wenn sie nicht medial narrativ sind, ein besonderes Potenzial besitzen, personale Narrationen zu induzieren, Anlässe zur Narrativierung zu evozieren.29 Man sollte aber vorsichtig sein, hieraus Rückschlüsse auf die Narrativität digitaler Spiele ziehen zu wollen. Um deutlich zu machen, inwiefern sich personale Narrationen von medialen Narrationen unterscheiden und einen kurzen Ausblick auf ihre Funktionsweisen zu gewähren, bietet es sich an, einen kurzen Exkurs einzuschalten. Die personale Narration kommt der eingangs skizzierten unmittelbaren und ursprünglichen Form der Narration, wie wir sie in primär oralen Kulturen finden, sehr nahe, bei der Erzähler und die Entität, welche die Narration konkret erzeugt, eins sind.  Personale Narrationen kommen also nicht primär in Verbindung mit Medien vor, auch wenn sie besonders im Kontext ›Neuer Medien‹ in Erscheinung treten – personale Narrationen sind ein signifikanter Teil unseres alltäglichen Lebens und wir erzählen sie uns jeden Tag (mehrfach) selbst. Sie können als ›kleine Geschichten‹ vorkommen, wenn wir einen Misserfolg am Arbeitsplatz narrativieren und ihn uns und anderen immer wieder erzählen oder sie können Teil von Metanarrativen sein, wenn wir diese kleine Misserfolgsgeschichte als Teil der Meistererzählung unseres gescheiterten Lebens begreifen und die kleine Geschichte als narrative Funktion im Metanarrativ verorten und mit anderen verketten. Die personale Narration dient somit als Bewältigungs- aber auch als Ordnungsmechanismus, der der Komplexität unseres Lebens eine leichter nachvollziehbare Form verleiht. Wie weitreichend die kulturelle Bedeutung personaler Narrationen ist, soll das folgende Beispiel zeigen.

Hayden Whites Überlegungen zum Erzählen von Geschichte verdeutlichen eindrücklich, dass die Tatsache, dass man etwas personal narrativieren kann, nichts über die qualitativen Eigenschaften der narrativierten Entität an sich aussagt. In Metahistory führt White aus, dass die Historiografie immer auf narrative Grundstrukturen rekurriert, somit Geschichte stets narrativ geschrieben wird, indem historische Zusammenhänge narrativ gedeutet beziehungsweise erzeugt werden.30 Im Rahmen des ›Emplotments‹ werden historische Ereignisse miteinander verkettet und diese Verkettungen werden durch narrative Kausalitäten semantisch aufgeladen. Das historische Ereignis wird zur narrativen Funktion und eine historische Ereignisabfolge hierdurch zum narrativen Plot. Hayden White unterscheidet hierbei im Wesentlichen mit Tragödie, Komödie, Satire und Romanze vier Erzählweisen beziehungsweise Narrative, mit denen man historische Prozesse erzählen kann.31

Damit zeigt White auf, welche Rolle Narrativierungen im Rahmen soziokultureller Aushandlungs- und Bewältigungsprozesse spielen, die selbst das faktisch scheinbar evidente Ergebnis einer (inter-)subjektiven Konstruktionsleistung sein können, die wir häufig nicht als solche erkennen. Dabei sind viele kulturelle Deutungen und Deutungsmuster von personalen Narrationen beeinflusst. So ergibt sich die narrative Verkettung von historischen Ereignissen im historiografischen Prozess nicht aus objektiv vorliegenden Faktualitäten, sondern aus subjektiven Deutungen, die vom Kontext des Deutenden in erheblichem Maße abhängen.

Der Prozess der Narrativierung historischer Ereignisfolgen durch Hinzunahme bestimmter (Meta-)Narrative sagt somit letztlich weniger über die Narrativität des Konglomerats an Akteuren, Beziehungen, Prozessen, Ereignissen, Zeiten und Orten, das wir Geschichte nennen, aus, als über das Bedürfnis des Menschen, seine Umwelt narrativ zu ordnen sowie die Fähigkeit personaler Narrationen, sämtliche prozessual-prozedural beschreibbaren Phänomenen personal narrativieren zu können. Eine personale Narration in Whites Sinne unterscheidet sich von denen in digitalen Spielen (mit Blick auf den Einzelspielermodus) aber durch ihre Reichweite. In digitalen Spielen sind personale Narrationen im Wesentlichen subjektive Angelegenheiten, die das Individuum für sich selbst generiert. Mit Blick auf die Geschichtsschreibung (und andere kollektive kulturelle Mechanismen) sind personale Narrationen aber intersubjektiv, da sie als Ergebnis soziokultureller Aushandlungsprozesse eine wichtige Funktion im Zuge kultureller Gedächtnisbildung übernehmen.32 Jan Assmann führt hierzu aus und ergänzt durch seine Argumentation Whites These treffend. »Auch Mythen sind Erinnerungsfiguren: Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte.«33 Erinnern bedeutet Selektion und Selektion wiederum ist eine Prämisse für die Narration. Erzählen funktioniert nur, indem man etwas auswählt, das man erzählen kann. Für die Selektion ist Faktualität aber weniger entscheidend, und dies stellt Assmann deutlich heraus, als die Bedeutung, die ein Objekt im Rahmen des personal-narrativen Deutungsprozesses einnehmen kann, unabhängig davon, ob sein ontologischer Status faktualer oder fiktionaler Art ist. Letztlich hängt der Status einer narrativierten Entität in der personalen Narration von der Funktionalisierung im Zuschreibungsprozess ab.

Intersubjektive personale Narrationen können für die Digital Game Studies von erheblichem Interesse sein, dies aber vor allem mit Blick auf Mehrspielersituationen, in denen mehrere personale Narrationen kollidieren und korrelieren. Es ist für personale Narrationen in digitalen Spielen zentral, und der Exkurs sollte dies verdeutlicht haben, dass es in den Digital Game Studies zwingend notwendig ist, zu evaluieren, ob eine Narration personaler oder medialer Art ist, da man zwar von der medialen Narration auf die mediale Narrativität des erzählenden Mediums schließen kann, dies aber nur in sehr eingeschränktem Maße auch für personale Narrationen gilt, da die narrativierten Entitäten an sich oft nicht narrativ im Sinne einer inhärenten Narrativität sind.

Unterschiede zwischen medialen und personalen Narrationen (in digitalen Spielen)

Um mediale und personale Narration einander gegenüberzustellen, ist es notwendig, das bereits Erörterte um einige Merkmale medialer und personaler Narrationen zu erweitern, die bisher noch nicht Erwähnung gefunden haben sowie das Vorherige zusammenzufassen (siehe Tab. 1). Mediale Narrationen sind intersubjektiv erfahr- und wahrnehmbar und auch in ihrer Gestalt beständig, da ›eingebettete‹ Narrative eine Grundstruktur vorgeben, auch wenn (und der Abschnitt zu Beyond: Two Souls hat dies angedeutet) es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, diese Narrative in verschiedenen medialen Narrationen variierend zu realisieren.34 Unabhängig davon, wer eine mediale Narration rezipiert, kann nur eine bestimmte Anzahl an tatsächlichen Plots konkret umgesetzt werden, die vorher bereits angelegt waren, da die Narration als Repräsentationsmodus in die Struktur des Mediums fest eingebunden ist. Mediale Narrationen erzeugen deshalb Plots, die in einem hohen Maße intersubjektiv vergleichbar rezipiert werden und dadurch repetitiv spielbar sind.

Tabelle 1:  Mediale und personale Narration im Vergleich

Im Unterschied dazu ist die personale Narration (meistens) nur subjektiv erfahr- und wahrnehmbar und ihre Gestalt ephemer, da sie erst vom Rezipienten generiert wird, indem dieser ›emergente‹ Narrative einsetzt, die mit seiner Interpretation des Spielerlebnisses kompatibel sind. In gewisser Weise erzeugt also jeder Spielende mit jeder Gamesession seine eigene Geschichte, die nur er auf diese Art wahrnimmt, wodurch die personale Narration einen singulativen Charakter hat. Im Vergleich zur medialen Narration kann der Rezipient im Rahmen der personalen Narration sogar die Struktur des Narrativs selbst modifizieren, was vor allem daran liegt, dass in der personalen Narration der Rezipient selbst die Selektionsinstanz der Narration ist, das heißt nur er bestimmt was, wie und wann erzählt wird. In der medialen Narration hingegen sind das Medium beziehungsweise der Autor oder Designer als Schöpfer des Mediums die Selektionsinstanz der Narration. Hieraus ergeben sich auch eine eher passivere Rolle des Rezipienten während der medialen Narration und eine eher aktivere Rolle während der personalen Narration. Dadurch, dass der Ausgang des Spiels ungewiss ist und die Kompatibilität des ›emergenten‹ Narrativs vom Verlauf wie Ausgang des Spiels abhängt, finden personale Narrationen oft retrospektiv statt, sodass die Narration der eigentlichen medialen Rezeption nachgelagert ist beziehungsweise zeitversetzt abläuft. Da es sich bei der medialen Narration aber um einen medialen Repräsentationsmodus handelt, erfolgen Narration und Rezeption hier simultan.

Betrachtet man die Spieltypen nach Roger Caillois, so fällt ferner auf, dass digitale Spiele mit medialen Narrationen eher zum ›ludus‹ neigen, also zum Spiel mit vorher bestimmtem Spielziel und starker Reglementierung, wohingegen jene digitalen Spiele aufgrund ihrer Polyvalenz besonders für personale Narrationen prädestiniert scheinen, die eher zum ›paidia‹-Spiel tendieren, das heißt zum freien Spiel mit eher losen Spielzielvorgaben und wenigen Spielregeln.

Ein interessanter Punkt im Zusammenhang medialer und personaler Narrationen in digitalen Spielen ist seit jeher die Frage, ob es sich bei den Avataren um Figuren im narratologischen Sinne handelt, ob die Spielwelt dementsprechend als Diegese zu begreifen ist, und ob die raumzeitliche Dimension virtueller Spielwelten mit denen (narrativ-)fiktionaler Medien vergleichbar ist.35 Diese Fragen werden wohl auch noch weiterhin die Digital Game Studies beschäftigen, allerdings kann es heuristisch vorteilhaft sein, solche Fragen anhand der dargebotenen Unterscheidung zu differenzieren. Ist die Narrativität in die Struktur des digitalen Spiels eingeschrieben oder wird sie dem Spiel vom Spielenden zugeschrieben? Erfüllen die Avatare als Figuren einer Erzählung Funktionen innerhalb des Narrativs oder werden sie vom Spielenden narrativ funktionalisiert?36 Setzt das digitale Spiel im Rahmen einer medialen Narration auf den narrativen Modus zur Repräsentation und Vermittlung des Geschehens oder erzeugt der Spielende im Kontext der personalen Narration seine eigenen Geschichten?

Formen individueller Rezeption

Zentral ist die Klärung solcher Fragen vor allem dann, wenn man digitalen Spielen als ludisch-narrativem Hybridphänomen nachgehen will, da es nicht wenige digitale Spiele gibt, die sowohl medial narrativ sind, als auch dem Spielenden viel Raum für seine eigenen personalen Narrationen lassen, somit beide Formen der Narration und dadurch Überschneidungen und Vermischungen zwischen/von diesen möglich machen. Man denke hier beispielsweise an Action-Adventures wie The Legend of Zelda (1986ff), das zweifellos medial narrativ ist, aber auch (und das nicht zuletzt aufgrund des Open-World-Prinzips) dem Spielenden viele Möglichkeiten zu verschiedenen personalen Narrationen gibt, die oft mit diversen paidia-Interpretationen einhergehen.

Personale Narrationen sind in den Digital Game Studies zudem von so großem Interesse, da dieser Narrationstyp einen sehr spielerischen Charakter hat, gewissermaßen eine Art ludischer Narration und deshalb mit dem Phänomen des Spiels kompatibel ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sie aufgrund ihrer Beschaffenheit nicht eher im Kontext mediensoziologischer Erkenntnisinteressen relevant sind anstatt in der Narratologie, und ob eine stärkere Abgrenzung von der medialen Narration digitaler Spiele nicht ratsam ist, wenn es darum geht, die Narrativität einer Entität zu bestimmen. Die (mediale) Narrativität digitaler Spiele kann meines Erachtens in jedem Fall nur im Kontext medialer Narrationen angemessen behandelt werden, da diese direkte Rückschlüsse auf die mediale Beschaffenheit eines digitalen Spiels zulassen, wohingegen personale Narrationen nur indirekte Rückschlüsse erlauben, indem man konkrete personale Narrationen analysiert, um hieraus Charakteristika digitaler Spiele abzuleiten. Die immense Bedeutung personaler Narrationen im Bereich digitaler Spiele deutet sich aber bereits im Phänomen des Let’s Plays an, da diese zu einem Großteil (vor allem, wenn es sich um Let’s Plays von Casual Gamern handelt) audiovisuelle Manifestationen personaler Narrationen sind, deren Erforschung noch zu den großen Desideraten der Digital Game Studies gehört.37

Ausblick

Der vorliegende Artikel schlägt mit der Unterscheidung von medialer und personaler Narration eine Differenzierung vor, die es ermöglicht, induktive Fehlschlüsse in Bezug auf die Narrativität digitaler Spiele zu vermeiden. Wenn Espen Aarseth ›Narratologen‹ »narrativism« vorwirft, dann meint er damit die Überinterpretation, alles als Geschichte zu betrachten.38 Man hat es, nach Aarseth, mit einer »overgeneralization« zu tun.39 In dieser Aussage steckt aber keinesfalls bloß eine ludologische Rhetorik, die bestrebt ist, narratologische Zugänge zur Analyse digitaler Spiele zu unterminieren. Aarseth macht hiermit zurecht auf die teilweise fehlende Differenzierung erzähltheoretisch-ausgerichteter Studien aufmerksam. Vor dem Hintergrund einer kulturwissenschaftlichen Wissenschaftskultur, die von narrativen Deutungsparadigmen dominiert wird, tendieren narrativistische Ansätze sehr schnell dazu, allzu weite Begriffsverwendungen narratologischer Termini zu gebrauchen.40 Durch die Erweiterung des Textbegriffs in den Kulturwissenschaften durch den ›linguistic turn‹ und die hieran anschließende Expansion narratologischer Instrumente durch die ›cultural turns‹ ist eine Analysepraxis entstanden, die nicht nur manchem Gegenstand nicht gerecht wird, sondern darüber hinaus zur Erosion narratologischer Instrumente selbst beiträgt.41

Begründet liegen viele dieser weiten Begriffsverwendungen in den Digital Game Studies darin, dass mediale und personale Narrationen ineinander verschwimmen. Zahlreiche Studien, auch wenn sie dies nicht explizit machen, meinen personale Narration, sprechen aber von medialen Narrationen.42 Dies wird vor allem dann problematisch, wenn hieraus induktive Schlüsse auf die Narrativität digitaler Spiele im Allgemeinen gezogen werden. Wenn zum Beispiel eine personale Narration vom Analysierenden nicht als solche erkannt wird, und dementsprechend daraus eine mediale Narrativität des betreffenden digitalen Spiels abgeleitet wird, so kann dies zu erheblichen Missverständnissen im Forschungsfeld führen. Der wissenschaftliche Mehrwert der Distinktion liegt also einerseits darin, dass es möglich wird, zu bestimmen, ob ein digitales Spiel auf den narrativen Modus im Zuge seiner Vermittlung zurückgreift und wenn, wie. Die transmediale Narratologie hat berechtigterweise darauf hingewiesen, dass es weniger darum gehen müsse, festzustellen, ob digitale Spiele narrativ seien oder nicht, sondern dass es von primärem Interesse sei, zu bestimmen, wie sich diese Narrativität konkret darstellt. Andererseits kann man sich fokussierter den Besonderheiten personaler Narrationen im Kontext digitaler Spiele zuwenden.

Dabei sollte es weniger relevant sein, personale Narrationen als Besonderheiten digitaler Spiele herauszustellen; vielmehr scheint es lohnenswert, sich den spezifischen Ausformungen personaler Narrationen von digitalen Spielen zuzuwenden. Unter diesem Gesichtspunkt könnten personale Narrationen ein heuristisch bedenkenswerter Ansatz für mediensoziologische Forschungssettings sein. Let’s Plays wurden diesbezüglich schon angesprochen. Dabei scheinen aber weniger live gestreamte Let’s Plays via beispielsweise Twitch in den Fokus zu rücken als bearbeitete und via Youtube hochgeladene Videos. Auf diese Weise wird das einzelne Let’s Play als subjektive personale Narration ebenso untersuchbar wie als Teil einer intersubjektiven personalen Narration. Diese Analysedimension betrifft auch die Äußerungen anderer, die mittels Kommentarfunktion oder eigenem Let’s Play reagieren können. Ebenso ist es denkbar, personale Narrationen in Foren oder in Massively Multiplayer Online Games zu analysieren, um das Verhältnis aus Korrespondenz und Konkurrenz personaler Narrationen untersuchen zu können.

Personale Narrationen sind somit nicht nur als Form der medialen Ausdrucksmöglichkeit digitaler Spiele zu verstehen, sie sind via Internet geteilt ein bedeutender Aspekt der Fankultur wie des Community Buildings, der mit Blick auf eine zunehmende Transmedialisierung der Fankultur nicht zu unterschätzen ist. Somit eröffnen personale Narrationen ebenso für nethnografische43 Studien Möglichkeiten, wie sie auch den Menschen als produzierende und erzeugende Instanz der Narration zugleich wieder in den Fokus der literatur- und medienwissenschaftlichen Forschung holen.

Literatur- und Medienverzeichnis

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WOLF, Werner: »Narrative and Narrativity. A Narratological Reconceptualization and its Applicability to the Visual Arts.« In: Word & Image 19.3 (2003), S. 180–197

  • 1. Zu den Merkmalen der massenmedialen Kommunikationssituation vgl. grundlegend Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg 1963, S. 32. Demnach wird ein Massenmedium technisch vermittelt, ist indirekt, öffentlich, einseitig in der Kommunikation und richtet sich an ein disperses Publikum.
  • 2. Primär ausgeblendet wird dabei das Verhältnis zwischen Erzähler und Autor, welche dennoch keineswegs amalgamiert werden sollten. Erzeugung meint in diesem Sinne dementsprechend nicht die Produktion als schöpferischen Akt des Autors, sondern vielmehr die Hervorbringung der Narration im Zuge der Vermittlung. Erzähler und Autor können in der Praxis zusammenfallen, dies ist in der Regel aber nur dann der Fall, wenn die Geschichte auch von ihrem Schöpfer erzählerisch vermittelt wird.
  • 3. So sagen Studien, die sich mit literarischen Erzähltexten befassen, vorrangig etwas über Erzählen im literarischen Medium aus und erst in zweiter Linie etwas über Erzählen als medienübergreifendes Phänomen. Aus der Bemühung heraus, induktiven (Fehl-)Schlüssen in Bezug auf das Erzählen vorzubeugen, entstand die Narratologie als eigenständige Disziplin. Ein früheres Beispiel, in dem dieses Anliegen kundgetan wird, findet man bei Tzvetan Todorov: »The Two Principles of Narrative«. In: diacritics 1.1–2 (1971), S. 37–44, hier S. 44. Auf einer viel breiteren Basis vertritt die transmediale Narratologie gegenwärtig diesen Anspruch, die sich medienspezifischen narrativen Potenzialen zuwendet. Aus dieser vergleichenden Perspektive heraus erscheint es möglich, repräsentative Aussagen über Erzählen im Allgemeinen treffen zu können. Vgl. zur transmedialen Narratologie exemplarisch Jan-Noël Thon: Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture. Lincoln 2016.
  • 4. Eines der prägnantesten Beispiele der jüngeren Vergangenheit hierfür ist die Narratologen-Ludologen-Debatte, da die Frage, ob digitale Spiele Erzählungen oder Spiele seien, primär davon abhängt, ob und inwieweit man digitale Spiele als narrativ (vermittelt) betrachtet.
  • 5. So regt bereits Todorov an: »Here it is necessary to distinguish between two ways of judging tranformations: according to their formative power or according to their evocative power. By formative power, I mean the aptitude of a transformation to form, by itself, a narrative sequence.« Todorov: »Two Principles« (Anm. 3), S. 41; Hervorhebungen im Original. Demnach gibt es Entitäten, die die formative Kraft besitzen, Erzählungen erzeugen zu können und es gibt Entitäten, die diese lediglich evozieren können. Diesem Gedanken folgt auch Werner Wolf, wenn er zwischen »genuin narrativ verwendbare[n]«, »narrationsinduzierende[n]« und »quasi-narrativ verwendbare[n]« Medien unterscheidet. Werner Wolf: »Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«. In: Vera Nünning u. Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 23–104, hier S. 96. Vgl. dazu auch Werner Wolf: »Narrative and Narrativity. A Narratological Reconceptualization and its Applicability to the Visual Arts«. In: Word & Image 19.3 (2003), S. 180–197. Allerdings geht Wolf in seinen Überlegungen davon aus, dass selbst ›quasi-narrativ verwendbare Medien‹ immer noch eine ihnen inhärente Narrativität haben, auch wenn diese nur sehr schwach ausgeprägt sein mag.
  • 6. Die Konzepte der medialen und personalen Narration (als zwei verschiedene Formen der Erzeugung von Narrationen) sind Teile des narratologischen Modells, das ich in meiner Dissertation, die gegenwärtig am GRK 1787 »Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung« an der Georg-August-Universität Göttingen entsteht, entwickele und dessen Aufbau ich – zumindest schematisch – erläutern möchte. Ich gehe davon aus, dass Narrative grundlegende Erzählmuster sind, die sich kulturell verfestigt haben. Diese bestehen aus einer Erzählstruktur, die narrative Funktionen gemäß einer für das Narrativ typischen Erzähllogik miteinander verkettet. Dazu gehören aber auch ein bestimmtes Figurenpersonal mit bestimmten Eigenschaften sowie ein bestimmtes chronotopisches Gefüge der Diegese. Ein Beispiel für ein derartiges Narrativ ist der Monomythos, wie in Joseph Campbell in seinem Der Heros in tausend Gestalten als Heldenreise beschreibt. Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Berlin 2011. Die Wirkmacht dieser Narrative ist derart groß, dass sie immer wieder aktualisiert werden und dies geschieht bei der Narration als konkreter Realisierung der Anlagen des Narrativs. Das Ergebnis dieser Realisierung ist dann wiederum, im Sinne Edward Morgan Forsters, entweder eine Story, aber i.d.R. ein Plot. Vgl. Edward Morgan Forster: Aspects of the Novel. Harmondsworth 1974, S. 93f. Es sei an dieser Stelle nachdrücklich darauf verwiesen, dass man die personale Narration aber nicht mit der ›personalen Erzählsituation‹ bzw. dem ›personalen Roman‹ bei Franz K. Stanzel verwechseln sollte. Dieser versteht hierunter keinesfalls die Erzeugung einer Narration durch eine (rezipierende) Person, sondern die Vermittlung einer Erzählung aus einer personalen, um Objektivität bemühten Perspektive heraus. »Der personale Roman ist daher ein erzählerloser Roman in dem Sinn, daß der Leser hier nirgends persönliche Züge eines Erzählers ausmachen kann und daher auch gar nicht den Eindruck bekommt, als werde erzählt. Im personalen Roman wird gezeigt, vorgeführt, dargestellt.« Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. Göttingen 111987, S. 40. Die personale Narration ist demnach im Unterschied, wie im Folgenden genauer zu zeigen sein wird, zur personalen Erzählsituation als Form der Vermittlung und Repräsentation des Mediums kein Teilaspekt der medialen Narration.
  • 7. Zu den Hybridisierungen von medialer und personaler Narration gehören zum Beispiel medial transportierte personale Narrationen. Diese liegen unter anderem vor, wenn die personale Narration eines Individuums kollektiv geteilt wird und diese Teilung durch Medien abläuft. In diesem Sinne handelt es sich bei einem Let’s Play um eine medial (über Youtube) transportierte personale Narration, wohingegen die Misserfolgsgeschichte am Arbeitsplatz, die wir abends unserem Partner erzählen, ohne mediale Vermittlung auskommt, da kein disperses Publikum adressiert wird.
  • 8. Einen kurzen, wenn auch sehr polemischen, Überblick über die Narratologen-Ludologen-Debatte anhand der prominentesten Vertreterinnen und Vertreter der narratologischen beziehungsweise narrativistischen Schule bietet Markku Eskelinen: Cybertext Poetics. The Critical Landscape of New Media Literary Theory. New York 2012, S. 209–233.
  • 9. Fotis Jannidis: »Event-Sequences, Plots and Narration in Computer Games«. In: Peter Gendolla u. Jörgen Schäfer (Hg.): The Aesthetics of Net Literature. Writing, Reading and Playing in Programmable Media. Bielefeld 2007, S. 281–305, hier S. 283.
  • 10. Gerald Prince definiert ein Narrativ wie folgt: »[A]n object is a narrative if it is taken to be the logically consistent representation of at least two asynchronous events that do not presuppose or imply each other.« Gerald Prince: »Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability.« In: John Pier u. José Ángel Landa (Hg.): Theorizing Narrativity. Berlin 2008, S. 19–27, hier S. 19. Ähnlich wie der Narrationsbegriff in den Digital Game Studies umfasst also auch Princes Narrativverständnis sowohl die Darstellung als auch die syntagmatische Aneinanderreihung von Ereignissen. Um Missverständnisse zu vermeiden, bezieht sich der Begriff Narration im Folgenden auf die Erzeugung einer Erzählung und das Narrativ auf die dieser Erzählung zugrundeliegende Erzählstruktur. Narrative sind, so gesehen, kulturell verfestigte Erzählmuster, die eine historisch wie räumlich konstante Erscheinung aufweisen und deren Wirkmacht derart groß ist, dass sie immer wieder Verwendung finden, wenn es darum geht, Plots via Narration zu generieren. Das wahrscheinlich populärste Narrativ in diesem Sinne ist der Monomythos als Heldenreise, wie in Joseph Campbell beschreibt. Vgl. Campbell: Heros (Anm. 6).
  • 11. Zu ›Kardinalfunktionen‹ und ›Katalysen‹ vgl. Roland Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt / M. 1988, S. 102–143. Eine bemerkenswerte Modifikation dieser Erzählfunktionen leistet Seymour Chatman mit Bezug auf Barthes Terminologie. Im Unterschied zu diesem verwendet er aber anstatt Kardinalfunktion »kernel« und anstatt Katalyse »satellite«. Vgl. dazu Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca, London 1993, S. 53–56. Anders als Barthes betont Chatman zum einen stärker den Aspekt des Geschehens und zum anderen die Selektivität und Multioptionalität von Handlungsmöglichkeiten sowie deren Konsequenzen. Da die narrative Funktion zur Explikation der Differenz zwischen medialer und personaler Narration aber nur in einem sehr basalen Verständnis benötigt wird, verwendet die vorliegende Arbeit die Barthes’sche Terminologie. 
  • 12. Vgl. dazu das folgende Kapitel.
  • 13. Britta Neitzel: Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. Weimar 2000, S. 6.
  • 14. Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994, S. 16. Vgl. dazu auch Neitzel: Gespielte Geschichten (Anm. 13), S. 161f. ›Produktion‹ bei Genette meint, was ich unter Erzeugung verstehe und nicht den schöpferischen Akt des Autors.
  • 15. Fotis Jannidis: »Narratology and the Narrative«. In: Tom Kindt u. Hans-Harald Müller (Hg.): What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin, New York 2003, S. 35–54, hier S. 48.
  • 16. Vgl. dazu Jay David Bolter u. Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge, London 2000.
  • 17. Diese Tatsache findet bisher in den narratologischen Diskursen der Digital Game Studies weniger Beachtung. Aber spätestens der deutliche Sieg des Programms AlphaGo über den südkoreanischen Weltklasse-Go-Spieler Lee Sedol im März 2016 zeigt, dass Computerprogramme als lernfähige ›künstliche neuronale Netzwerke‹ (KNN) nicht nur in der Lage sind, komplexe menschliche Denkvorgänge zu imitieren – sie können vielmehr sogar Syntagmen herstellen, die Menschen offensichtlich nicht generieren. So entwickelte AlphaGo, nachdem eine immense Menge von Daten historischer Go-Partien in es eingespeist wurde, im Laufe seines Trainings Spielzüge und Taktiken, die menschlichen Go-Spielern unbekannt waren und die Sedol in mehreren Partien überforderten. Dieses Beispiel zeigt, dass Computerprogramme als lernfähige Netze künstlicher Intelligenz sehr wohl, entgegen vieler Annahmen, autonom handeln können. Spätestens, wenn KNNs mit Narrativen oder anderen erzählsyntaktischen Mustern gespeist werden, und hieraus neue Syntagmen entwickeln, die sich unter Umständen (ähnlich wie die Go-Spielzüge) deutlich von menschlich produzierten und erzeugten Narrativen abheben, stellt sich der Narratologie die Herausforderung, Formen des Erzählens erklären zu müssen, die sich von den bisherigen unterscheiden.
  • 18. Vgl. dazu Richard Rouse: Game Design. Theory & Practice. Plano 22005, S. 203ff. sowie Marc LeBlanc: Vortrag auf der Game Developers Conference 1999. Zu den Begriffen ›emergent‹ und ›embedded narrative‹ vgl. auch Henry Jenkins: »Game Design as Narrative Architecture«. In: Noah Wardrip-Fruin u. Pat Harrigan (Hg.): First Person. New Media as Story, Performance and Game. Cambridge, London 2004, S. 118–130, hier S. 128 sowie Celia Pearce: »Towards a Game Theory of Game«. In: Noah Wardrip-Fruin u. Pat Harrigan (Hg.): First Person. New Media as Story, Performance, and Game. Cambridge, London 2004, S. 143–153, hier S. 145. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich in Bezug auf die Vermittlung von Informationen in Texten via Zeichensträngen bereits bei Espen Aarseth, der zwischen »scriptons« und »textons« unterscheidet. Espen Aarseth: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore, London 1997, S. 62. Unter Ersteren versteht er jene Stränge, die vom Leser erzeugt werden und unter Letzteren jene Stränge, die im Text bereits existent sind.
  • 19. Eines der weit verbreitetsten, in digitale Spiele eingebettete Narrativ ist der Monomythos als Heldenreise.
  • 20. Vgl. Katie Salen u. Eric Zimmerman: Rules of Play. Game Design Fundamentals. Cambridge, London 2004, S. 383.
  • 21. Gordon Calleja: »Experiential Narrative in Game Environments«. In: Proceedings of DiGRA 2009. http://www.digra.org/dl/db/09287.07241.pdf (zuletzt eingesehen am 5. Januar 2016).
  • 22. Mit der medialen Narration richtet sich das Hauptaugenmerk des Erkenntnisinteresses dementsprechend eher auf die Produzentenseite und auf die konkrete Erzeugung einer Narration durch ein ›genuin narratives‹ Medium, wohingegen die personale Narration eine Fokussierung auf die Rezipientenseite und die Generierung einer Narration durch das rezipierende Subjekt bedingt.
  • 23. Vgl. dazu exemplarisch Sean Hollister: »›Beyond: Two Souls‹ Review. Crossing the Blurry Line Between Movies and Games«. In: The Verge, 8. Oktober 2013. http://www.theverge.com/2013/10/8/4814072/beyond-two-souls-review (zuletzt eingesehen am 13. Juli 2016).
  • 24. Zu ›agon‹ und ›alea‹ vgl. Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Stuttgart 1960, S. 19. Unter ›agon‹ fasst Caillois alle Wettkampfspiele, wohingegen ›alea‹ die Schicksals- bzw. zufallsbestimmten Spiele bezeichnet.
  • 25. Zu ›ludus‹ und ›paidia‹ vgl. ebd., S. 19f. sowie Gonzalo Frasca: »Ludology Meets Narratology. Similitudes and Differences Between (Video)Games and Narrative«. In: Ludology.org, 1999 [ohne Tag und Monat]. http://www.ludology.org/articles/ludology.htm (zuletzt eingesehen am 5. Januar 2016). ›Ludus‹ meint strikt reglementierte Spiele mit einem fest definierten Spielziel, ›paidia‹ bezieht sich auf wenig reglementierte Spiele, die tendenziell kein Spielziel oder lediglich eines mit sehr untergeordneter Bedeutung haben.
  • 26. Zum Verhältnis von Simulation und Narration in digitalen Spielen vgl. exemplarisch Gonzalo Frasca: »Simulation versus Narrative. Introduction to Ludology«. In: Mark J. P. Wolf u. Bernard Perron (Hg.): The Video Game Theory Reader. New York u.a. 2003, S. 221–235 sowie Jan-Noël Thon: »Simulation vs. Narration. Zur Darstellung fiktionaler Welten in neueren Computerspielen«. In: Andreas Becker u.a. (Hg.): Medien – Diskurse – Deutungen. Beiträge des 20. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums. Marburg 2007, S. 68–76.
  • 27. Vgl. zum ›American Dream‹ und dessen Funktionsweisen als Alltagsmythos Roland Barthes: Mythen des Alltags. Berlin 2010.
  • 28. Zur Prozeduralität vgl. Ian Bogost: Persuasive Games. The Expressive Power of Videogames. Cambridge 2010, hier vor allem S. 3–11 sowie Janet Murray: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York u.a. 1997, S. 71–74.
  • 29. Markus Engelns spricht in diesem Zusammenhang von ›narrativen Rezeptionsangeboten‹, worunter er ein »[s]pielseitiges Angebot [versteht], das die Rezeption des Spielers explizit oder implizit auf narrative Teilelemente von Computerspielen fokussiert. Dem Spieler ist es somit möglich, einzelne Teilelemente narrativ zu rezipieren.« Markus Engelns: Spielen und Erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung. Heidelberg 2014, S. 393. Allerdings impliziert dies immer noch das Vorhandensein narrativer Teilelement in der medialen Struktur. Deshalb bietet es sich zukünftig vielleicht an, unter narrativen Rezeptionsangeboten nicht nur narrative Elemente zu verstehen, sondern den Fokus zu weiten und zu fragen, inwiefern interaktive, performative oder simulative Elemente im Designprozess digitaler Spiele eingesetzt werden können, um beim Spieler personale Narrationen zu induzieren und dies selbst bei digitalen Spielen, die nicht medial narrativ sind. Darüber hinaus kön­nte es ein lohnenswerter Ansatz für mediensoziologische Studien sein, die konkreten personalen Narrationen von Spielenden nicht medial narrativer digitaler Spiele zu untersuchen, die Teil einer (medial) narrativ geprägten transmedialen Welt sind, um zu eruieren, ob und wenn welche Auswirkungen der narrative Kern der transmedialen Welt auf die Narrativierungen nicht medial narrativer Teile der Welt hat. Insofern könnten breit angelegte Mediennutzungsstudien auch zu Mario Kart 8 als Teil der (figurengebundenen) transmedialen Welt Marios aufschlussreich sein, die schließlich auch mediale Objekte umfasst, die medial narrativ sind, was sich auf die Rezeption nicht medial narrativer Objekte auswirken kann.
  • 30. Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt / M. 2008.
  • 31. Diese Vierteilung übernimmt Hayden White von Northrop Frye: »Wir haben nunmehr die Frage beantwortet: Gibt es erzählerische (narrative) Kategorien der Literatur, die weiter oder logisch früher sind als die gewöhnlichen Gattungen? Es gibt deren vier: die romantische, die tragische, die komische und die ironische oder satirische.« Northrop Frye: Analyse der Literaturkritik. Stuttgart 1964, S. 164; Hervorhebung im Original.
  • 32. Alternativ zu subjektiver und intersubjektiver personaler Narration kann man auch von individueller und kollektiver personaler Narration sprechen.
  • 33. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 62007, S. 52.
  • 34. Dieser Variantenreichtum an Realisierungsmöglichkeiten als Plots tritt noch deutlicher zutage, wenn man medial narrative digitale Spiele betrachtet, die non-linear erzählen, sodass es nicht den einen Plot gibt sondern eine Vielzahl dieser.
  • 35. Marie-Laure Ryan vertritt beispielsweise solch eine weite Auffassung narrativer Darstellungen. Vgl. Marie-Laure Ryan: Avatars of Story. Minneapolis u.a. 2006, S. 8. Jedoch bleibt es in diesen Zusammenhängen oft fraglich (und unbegründet), was genau die narrative Welthaftigkeit oder die Fiktionalität der Figuren ausmacht und inwiefern sich diese von Welten unterscheiden, die nicht narrativ und nicht fiktional sind.
  • 36. Besonders derartige Fragen verdeutlichen, dass die Untersuchung personaler Narrationen adäquat nur durch empirisch ausgerichtete Studien, die das konkrete Mediennutzungsverhalten von Spielenden analysieren, zu leisten ist. Hierdurch unterscheidet sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit personalen Narrationen deutlich von medialen, wie sie größtenteils von den Literatur- und Medienwissenschaften betrieben wird.
  • 37. Zum Let’s Play vgl. Judith Ackermann (Hg.): Phänomen Let’s Play-Video – Entstehung, Ästhetik, Aneignung und Faszination aufgezeichneten Computerspielhandelns. Wiesbaden 2017.
  • 38. Espen Aarseth: »Genre Trouble: Narrativism and the Art of Simulation«. In: Noah Wardrip-Fruin u. Pat Harrigan (Hg.): First Person. New Media as Story, Performance, and Game. Cambridge 2004, S. 45–55, hier S. 49.
  • 39. Ebd.
  • 40. Vgl. hierzu exemplarisch Raffael Schuppisser: Von der Simulation zum Text. Narrative Strukturen in Computerspielen. Zürich 2014.
  • 41. Eine der prominentesten Kritikerinnen aus den Reihen der Narratologie ist Shlomith Rimmon-Kenan. Sie formuliert mit Blick auf den ›Narrative Turn‹ und die damit zusammenhängende Verwendung des Narrativbegriffs: »What do I gain by such a move? By narrowing the scope of ›narrative‹, I am trying to defend the term against being emptied of all semantic content: if everything is narrative, nothing is.« Shlomith Rimmon-Kenan: »Concepts of Narrative«. In: COLLeGIUM. Studies across Disciplines in the Humanities and Social Sciences 1 (2006), S. 10–19, hier S. 17.
  • 42. Vgl. exemplarisch Schuppisser: Simulation (wie Anm. 40), S. 99ff. Schuppisser analysiert hier eine Mission aus Grand Theft Auto IV (2008), in der der Avatar Niko Bellic den Non Player Character Lyle Rivas eliminieren soll. Mit Rückgriff auf Algirdas Julien Greimas’ ›narratives Programm‹ betrachtet er den Akt des Kampfes als zentrale Phase der Prüfung des Avatars. Dabei wird aber nicht reflektiert, dass die Auseinandersetzung mit gerade dieser Phase der Quest als Teil der »narrative[n] Struktur der Mission« nicht medial narrativ ist, sondern interaktiv-ludisch ausagiert wird. Jedwede Form der Narration in diesem Abschnitt geht also vom Analysierenden und nicht vom Medium an sich aus.
  • 43. Vgl. dazu Robert V. Kozinets: Nethnography. Doing Ethnographic Research Online. Los Angeles 2010.

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