Julia
Nantke
Wuppertal

Multiple Autorschaft als digitales Paradigma und dessen Auswirkungen auf den Werkbegriff

1. Einleitung: Multiple Autorschaft als digitales Paradigma

Die spezifische mediale Umgebung der digitalen Produktion sowie der elektronischen Präsentation und Rezeption literarischer Texte befördert die Etablierung neuer Praktiken des Schreibens. Einen zentralen Aspekt dieser Entwicklung stellt die Vervielfältigung von Autorschaft im Rahmen der literarischen Produktion dar. Dies gilt insbesondere, wenn unter multipler Autorschaft nicht nur verstanden wird, dass »die Beteiligten absichtlich Materialien erzeugen oder auswählen, die später die öffentlich wahrnehmbaren Teile des Werks bilden«.1 Neben dieser im engeren Sinne gemeinschaftlichen Autorschaft zeichnet sich die digitale literarische Landschaft2 durch weitere Formen der Multiplizierung von Autorschaft aus, die maßgeblich durch die gewandelten medialen Möglichkeiten sowie die daran geknüpften technischen und sozialen Praktiken der Produktion und Rezeption von Texten bedingt sind. Der Terminus der multiplen Autorschaft erfasst daher in diesem Beitrag ebenfalls Strategien der systematischen Verwendung von Texten und literarischen Ideen Dritter3 sowie die Auswirkungen der ›Verdopplung‹ des Textes auf die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten im Zuge digitaler Codierung.4 In diesem Sinne fokussiert der Beitrag Schreib- und Autorschaftspraktiken,5 die sich auf die diskursive Verortung von Autorschaft sowie auf die Plausibilität der Zuschreibung von »Funktionen des Autorkonzepts« zur Bewältigung interpretatorischer Fragestellungen6 bzw. zur Strukturierung des literarischen Felds7 auswirken.

Auch wenn multiple Autorschaft hier als genuin digitales Paradigma perspektiviert wird, bedeutet dies weder, dass alle digitalen literarischen Texte sich durch vervielfältigte Autorschaft auszeichnen noch dass für die im Folgenden verhandelten Formen keinerlei ›analoge‹ Vorgänger bestehen. Indem Literatur nie voraussetzungslos funktioniert, sondern jeder neue Text »immer schon ›in‹ der Literatur gegründet«,8 also das Ergebnis von Anknüpfungs- und Abgrenzungsbewegungen gegenüber bestehenden Strömungen ist, können auch von den im Folgenden verhandelten digitalen Beispielen unterschiedliche Verbindungslinien zu ›analogen‹ Einzelprojekten oder Bewegungen multipler Autorschaft gezogen werden.

Allerdings markieren die neuen Schreibpraktiken einen strukturellen Bruch mit dem seit dem 18. Jahrhundert tradierten »romantische[n] Modell des einsamen Einzelautors«,9 welches »an der Schnittstelle ökonomisch gesteuerter literarischer Öffentlichkeit und dadurch informierter soziokultureller Belegungen der Entität ›Autorin‹ in Produktion, Distribution und Rezeption literarischen Materials«10 situiert ist. Dessen Perspektive prägt aktuell noch immer maßgeblich den literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs in Form von Gesamtausgaben, Autorenmonografien, Dichterlesungen und Literaturpreisen und es ist nicht davon auszugehen, dass sich dies in der nächsten Zukunft entscheidend ändert, da der Einfluss digitaler Literatur auf das literarische Feld momentan (noch) als zu gering einzuschätzen ist. Zudem existiert eine Vielzahl an digitalen Werken, die – tatsächlich oder zumindest in der Inszenierung – an das klassisch-singuläre Autorbild anknüpfen.11

Dennoch sind die digitalen Praktiken in einem weiteren Kontext der »Kultur der Digitalität« zu verorten, der sich insgesamt als wirkmächtig gegenüber etablierten Kulturtechniken und Paradigmen erweist.12 In diesem Zusammenhang stehen die digitalen Formen multipler Autorschaft und die mit ihnen verknüpften Strategien der Produktion und Publikation auch für neue Strukturen der Kommunikation, Wissensaggregation und -distribution.13 Ebenso wie die modernen Vorstellungen von Autorschaft und Werk maßgeblich als Reaktionen auf die schriftliche Fixierung und massenweise Verbreitung im Rahmen von druck- und markttechnischen Innovationen im 18. Jahrhundert zu verstehen sind,14 lassen sich an den neuen Schreibpraktiken unter veränderten medialen Bedingungen Verschiebungen ablesen, die sich auf die »Relevanz und Legitimität von Fragen, die an das Werk gestellt werden«15 und entsprechend auf die Konzepte von Autorschaft und Werk auswirken.

Vor diesem Hintergrund unternimmt der folgende Beitrag anhand deutschsprachiger literarischer Beispiele den Versuch einer Differenzierung der verschiedenen Praktiken multipler Autorschaft. Die Auswahl der Beispiele folgt der Prämisse, dass diese möglichst unterschiedliche Spielarten der Multiplikation von Autorschaft aufweisen sollten und auf diese Weise in ihrer Gesamtheit repräsentativ für die verschiedenen Möglichkeiten der Vervielfältigung von Autorschaft in der digitalen Literatur stehen können. Die unterschiedlichen Texte und Projekte werden deshalb jeweils nach den Umständen des Zustandekommens, den ›Funktionsweisen‹ und den Inszenierungen multipler Autorschaft befragt.

Hierbei stehen insbesondere das Verhältnis dieser Autorschaftspraktiken zum etablierten Konzept eines singulären Autors, der die »Einheit des Schreibens«16 verbürgt, sowie zu der daran geknüpften Perspektive der »Überzeitlichkeit, Geschlossenheit, Einheitlichkeit«17 seines Werks im Fokus der Betrachtung. Dafür erweisen sich die mit den Autorschaftspraktiken jeweils einhergehenden verschiedenen Formen der Kohärenzstiftung durch Namen und Titel, erzählerische, inhaltliche, konzeptuelle und mediale Strukturen sowie die Bezugnahmen auf literarische und andere mediale Formate im Rahmen der untersuchten Texte als zentral.

In der Darstellung von Verschiebungen ebenso wie in der Suche nach Kontinuitätslinien sollen auf diese Weise Parameter für eine Konzeptionierung von Autor und Werk unter digitalen Bedingungen entworfen und Wechselwirkungen zwischen innovativen und tradierten Strukturen in den diskutierten Beispielen digitaler Literatur herausgearbeitet werden. Dabei wirken sich die Spezifika der literarischen Beispiele unweigerlich auf die dargestellten Ausformungen digitaler Paradigmen von Autor und Werk aus. Zudem steht ein literarisches Beispiel nicht zwangsläufig für (nur) eine spezifische Ausformung. Vielmehr verweisen strukturelle Überlagerungen in einzelnen Projekten sowie Überschneidungen zwischen verschiedenen Projekten immer wieder auf grundlegende Tendenzen und Interdependenzen in den digitalen Ausprägungen von Autorschaft und Werkförmigkeit.

Schlussendlich nimmt der Beitrag in einer erweiterten Perspektive zumindest ausschnitthaft die Folgen des digitalen Paradigmas multipler Autorschaft und der daran geknüpften Verschiebungen im Autor-Werk-Verhältnis für die Entwicklungen des literarischen Feldes als Ganzes in den Blick, um grundlegende Dynamiken zu skizzieren, welche eine Erweiterung literaturwissenschaftlicher Perspektiven im Spannungsfeld analoger und digitaler Paradigmen bedingen.

2. Abgrenzungen

Es wurden bereits verschiedene Versuche unternommen, digitale Autorkonzepte zu systematisieren. So differenziert beispielsweise Hartling aus einer an Foucaults Dispositiv-Begriff geknüpften Perspektive in genialistische, kollaborative, marginalisierte und dissoziierende Autorschaft,18 Zimmermann hingegen unterscheidet im Spannungsfeld zwischen Text und Autor nichtlineares und kombinatorisches Erzählen sowie kollaboratives Schreiben.19 Die Überschneidung in diesen beiden einschlägigen Beispielen im Moment des Kollaborativen unterstreicht erneut die spezifische Stellung multipler Autorschaft in der digitalen Literatur, auch wenn dieses Phänomen von den Autoren jeweils unterschiedlich perspektiviert wird.20

Da hier explizit die multiplizierte Autorschaft sowie das Autor-Werk-Verhältnis im Fokus der Betrachtung stehen, unterscheide ich im Folgenden, ausgehend von konkreten Beispielen vier Fälle digitaler multipler Autorschaft. Diese Kategorisierung dient dazu, Phänomene multipler Autorschaft differenzierter beschreiben zu können, und auf diese Weise verschiedene auktoriale Konstellationen sichtbar zu machen, die mit einer bloßen Gegenüberstellung von singulärer und kollaborativer Autorschaft nicht zu erfassen sind. Als kooperative Projekte werden in diesem Zusammenhang solche benannt, die in einer vereinbarten Kooperation mehrerer Autor_innen für ein bestimmtes literarisches Projekt bestehen und zu denen jede_r der Autor_innen einen eigenen, klar gekennzeichneten Beitrag liefert. Diese Form multipler Autorschaft ist abzugrenzen sowohl von partizipativen Mitschreibeprojekten, an denen sich prinzipiell jede_r beteiligen kann,21 als auch von kollaborativen Projekten ohne erkennbare Einzelautorschaften. Die letzte im Folgenden betrachtete Konstellation stellt das Autorenkollektiv dar, welches sich bewusst unter einer gemeinsamen künstlerischen Fokus zusammenschließt und im Gegensatz zu den kooperativen Projekten auf mehr oder weniger dauerhafte Zusammenarbeit über ein einzelnes Projekt hinaus angelegt ist.22 Im Rahmen der auf diese Weise unterschiedenen Konstellationen bestehen aufgrund der verschiedenen künstlerischen Gestaltungsweisen weitere Ebenen der Multiplikation von Autorschaft, die einerseits spezifisch für die jeweiligen Texte, Kollektive oder Genres sind, andererseits aber wiederum auf das Paradigma der Multiplizierung von Autorschaft in der digitalen Literatur verweisen. Jene werden jeweils im Zuge der Betrachtung der einzelnen Konstellationen beleuchtet.

Diese Differenzierungen verschiedener Konstellationen und Ebenen multipler Autorschaft sind entscheidend für die folgenden Überlegungen, da sie sich sowohl auf die (Inter-)Aktionsmöglichkeiten der jeweiligen Autoren als auch auf die ›Funktionsweisen‹ der Werke und in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeiten der Zuschreibung von Autorfunktionen auswirken.

3. Kooperative Projekte: Das Werk als Dialog

Als Beispiel für ein kooperatives Projekt dient hier der »Mosaik-Roman« Zwei Mädchen im Krieg, der über drei Wochen im Februar und März 2015 in der Open Access-Onlinezeitschrift hundertvierzehn des S. Fischer Verlags erschien, und an dem sich neun Autor_innen beteiligten.23 Die Publikation erfolgte also gewissermaßen in einer Art ›Zwischenraum‹ zwischen institutionalisierter Verlagspublikation und Blog. Der Verlag bezeichnet das Werk im Paratext als »Erzählexperiment« im »digitale[n] Labor«.24

Die Initiation geht allerdings – zumindest nominell – nicht auf den Verlag selbst, sondern wiederum auf einen zehnten Autor, Thomas von Steinaecker, zurück. Dieser wandte sich im Vorfeld des Projekts in einem »offenen Brief«, der ebenfalls in hundervierzehn erschien, mit der Idee für einen Text an seine Kolleg_innen:

Als Ausgangsplot habe ich eine Geschichte ausgewählt, bei der mein Verstand an seine Grenzen kommt. Es ist der Fall der Wiener Teenager Samra und Sabina, beide mit Migrationshintergrund und »normale Mädchen« (will heißen: westlich, dem medial vermittelten Frauenbild völlig entsprechend), die unversehens nach Syrien in den Krieg zogen und seitdem auf Facebook mit Fotos, auf denen sie tief verschleiert sind, Werbung für IS machen. Ihr werdet im Netz darüber, bei Bedarf, zahllose Fotos und Reportagen finden. Material ist also ausreichend vorhanden. Man kann diese Geschichte als Märchen erzählen. Man kann kurze Momentaufnahmen aus verschiedenen Lebensstationen der beiden Mädchen festhalten. Man kann ihre Fotos verschriftlichen. Eigentlich ist also, wie immer in der Literatur, absolut alles möglich.25

Diesen »Brief« Steinaeckers präsentiert hundertvierzehn als Paratext zu den folgenden literarischen Texten. Steinaecker inszeniert sich hier als Initiator des Projekts, der das Thema vorgibt sowie »eine vage strukturelle Vorgabe« in Bezug auf die Gliederung der Handlung und die Perspektiven macht. Strukturgebend im Sinne einer Handlungsanweisung für die Verfasser_innen der Texte sowie für die Leseerwartung wirkt also zunächst die von Steinaecker vorgegebene Plotlinie, zu der pro Woche drei Autor_innen Texte verfassen, die klar voneinander abgegrenzt mit Angabe des/der jeweiligen Autors/Autorin sowie kurzen biografischen Angaben auf der Webseite des Verlags präsentiert werden. Die vorgegebene lineare Handlungsstruktur sprengt der Text jedoch schnell, die auktoriale Vielfalt, die auch visuell durch verschiedenfarbig markierte Abschnitte und wechselnde Typografie hervorgehoben ist, schlägt sich stilistisch mikro- wie makrostrukturell nieder, sodass der Gesamttext eine Montage unterschiedlicher Genres, narrativer Zugriffe und Schreibweisen bildet. So stehen in der zweiten Woche ein essayistischer Text (Juan S. Guse), fiktionale Erlebnisberichte verschiedener Figuren (Lucy Fricke) und eine (fingierte?) Abschrift einer Nachrichtenfernsehsendung (Sarah Stricker) nacheinander.

Die in der Gattungsangabe veranschlagte Mosaikhaftigkeit des Romans wirkt sich entscheidend auf die transportierte Autorschaftsvorstellung aus, die mit Blick auf das Werk als narrative Einheit ebenfalls nur als mosaikhaft zu beschreiben ist: Sämtliche von Jannidis veranschlagten Autorfunktionen müssen hier anteilig neun Autor_innen sowie dem Initiator Steinaecker zugeschrieben werden, dem gewisse Anteile an der Gestaltung und entsprechend auch der Bedeutung, Erkenntnis und Innovation attribuiert werden können,26 wobei die konkrete narrative Ausgestaltung den Verfasser_innen zukommt. Die ursprüngliche hierarchische Struktur von Initiator und ›ausführenden‹ Verfasser_innen löst sich in der Zuschreibung von an Textmerkmalen orientierten Autorfunktionen auf.

Im Gegensatz zu analogen ›Vorbildern‹ wie etwa dem Roman der 1227 sowie zu seriellen Publikationen von Romanen in Zeitungen und Zeitschriften zeichnet sich die Publikation Zwei Mädchen im Krieg durch eine Besonderheit aus, die in der Ausnutzung digitaler Kommunikationspraktiken begründet ist: Steinaecker, den neun Verfasser_innen sowie der hinzugezogenen Schriftstellerin Kathrin Röggla steht eine Kommentarfunktion zur Verfügung, über die sie sich verständigen, die eigenen und fremden Texte sowie das Projekt als Ganzes metatextuell begleiten können. Die Kommentare sind auch für den Rezipienten sichtbar; sie werden, wie die Texte nach Wochen gegliedert, unter den fiktionalen Texten eingeblendet. Diese Meta-Kommunikation über den Text macht den Arbeitsprozess an selbigem für die Rezipierenden sichtbar, stellt ihn performativ aus. Dort werden Ideen ausgetauscht, Fragen der Darstellung und des narrativen Zusammenhalts,28 aber auch die Macht und Funktionsweisen sozialer Medien sowie die Perspektive des Scheiterns des Projekts angesichts der (Un-)Möglichkeit der Fiktionalisierung des unbegreiflichen realen Ereignisses diskutiert.29 Die Meta-Kommunikation greift zudem im vorletzten Text von Jörg Albrecht auf die Narration selbst über, indem er sich und seine Versuche, ein Exposé für die Verfilmung des Stoffs zu verfassen, metaleptisch in den Text einschreibt: »Ich weiß nicht mehr weiter. Ich brauch kurz ne Pause. Irgendwas an dieser Leidenschaft, alles zu kategorisieren, das Leben in passende kleine Kästchen zu füllen, reibt mich völlig auf, verwirrt mich, und die Bedeutung bricht unter allem zusammen.«30

Dieses Ausstellen des Arbeitsprozesses, des Ringens um die richtige Darstellungsform und des Dissens unter den Autor_innen untergräbt die Vorstellung der Genialität der Schreibenden und der Geschlossenheit des Werks.31 Die Rezipierenden beobachten stattdessen den Entstehungsprozess eines Werks, an dem verschiedene Instanzen beteiligt sind und sich wechselseitig mit Ideen, Kritik und Anregungen beeinflussen. Allerdings muss diese Beobachtbarkeit als eine inszenierte begriffen werden, denn die Meta-Kommunikation ist Teil des Publikationsformats, deren Sichtbarkeit entsprechend von den Autor_innen einkalkuliert. Sie wird selbst Teil des ›eigentlichen‹ Textes, die kommentierenden Autor_innen zu ›Figuren‹ einer zweiten Ebene.32 So kann bspw. Albrecht davon ausgehen, dass seine metaleptische Selbsteinschreibung in Verbindung mit den zuvor im Kommentar diskutierten Themen rezipiert wird.33 In diesem Zusammenhang kann die Zuschreibung von Autorfunktionen für die Interpretation der beobachtbaren Kommunikationssituation hilfreich sein, in Bezug auf die erzählte Geschichte als Einheit, an der neben denen der neun Autor_innen weitere ›Stimmen‹ in Form von eingebundenen Medien-›Schnipseln‹ teilhaben, gilt dies eher weniger. Das exzessive Ausstellen der Tätigkeit der Autor_innen sowie die paratextuelle Inszenierung derselben tragen nämlich umgekehrt entscheidend zur Mosaikhaftigkeit des transportierten Autorbildes bei, indem sie dem Leser/der Leserin die verschiedenen, an der Textproduktion beteiligten Instanzen permanent bewusst, die einzelnen Autor_innen in ihrer geteilten Verantwortung für den Text für die Rezipierenden deutlich sichtbar machen.34 Die Konstruktion eines kohärenten Autorbildes in Bezug auf die Gestaltung von Zwei Mädchen im Krieg wird auf diese Weise verhindert.

Die zerstückelte Kommunikation zwischen den Einzelelementen des ›eigentlichen‹ Textes und den jeweils angehängten Kommentaren beeinträchtigt zudem einen linearen Lektüremodus, der für die Erfassung der Inhalte der Einzeltexte ohnehin nicht zwingend notwendig ist. Stattdessen entfaltet sich ein kommunikatives Netz, in dem die Spannung zwischen Einzelautor_innen und Gesamtwerk sowie zwischen Werk und Metakommunikation aufgehoben ist. Gerade die Wechselwirkungen zwischen diesen Konzepten ermöglichen es, dass hier zentrale literarische und gesellschaftliche Fragen wie das Verhältnis von Fakten und Fiktion, die Rolle von Literatur und die Einflussmöglichkeiten von Medien reflektiert, diskutiert und in praktischen Versuchen bearbeitet werden. Entsprechend der Feststellung Hartlings wird die Kommunikation über das Schreiben selbst zum zentralen Thema,35 ohne dabei allerdings den ›Kontakt‹ zum erzählerischen Plot der Zwei Mädchen im Krieg zu verlieren. Jener bildet vielmehr den zentralen Knoten, der die Einzelbeiträge zusammenhält und stellt ebenfalls immer wieder den Ausgangspunkt für die Reflexionen in den Kommentaren dar. Zwei Mädchen im Krieg steht damit für ein unter den Bedingungen digitaler Medialität gewandeltes Werk-Format, das einerseits strukturelle Parallelen zur dialogischen Kommunikationssituation in Chatrooms und sozialen Netzwerken zeigt, dabei aber andererseits in der Zielsetzung und Inszenierung eine spezifisch literarische Ausprägung aufweist.36

4. Mitschreibeprojekte: (Un-)Begrenzte Anschlusskommunikationen

Ähnlich wie Zwei Mädchen im Krieg gehen die beiden miteinander verbundenen Mitschreibeprojekte Magische Welt. Íja Macár37 und Die Perlen von Caala-Elen38 auf Initiator_innen zurück, die unter den Pseudonymen »Zauberfee« bzw. »Moordrache« firmieren und nicht nur die erzählte Welt im Rahmen von Prologen zu den Romanen vorgeben, sondern auch selbst weitere Episoden beisteuern. Hier besteht also ebenfalls eine Hierarchie zwischen Initiator_in und Mitschreibenden. So behält »Zauberfee« sich vor, bestimmte »Folgen« zu löschen und determiniert durch die von ihr verfasste Vorgeschichte bestimmte Handlungsentwicklungsmöglichkeiten.39 Inwieweit der/die Initiator_in aufgrund dieser Autorität allerdings tatsächlich Einfluss auf den Handlungsverlauf nimmt, ist für die Rezipierenden nicht zu beurteilen, was die Möglichkeiten der eindeutigen Zuschreibung von Autorfunktionen einschränkt. Dies gilt auch für den potentiellen Einfluss der Texte der anderen Autor_innen. Denn die Mitschreibenden sind auch hier sowohl Rezipierende als auch Produzierende, deren Texte immer von den bereits geschriebenen Teilen des Werks beeinflusst werden. Anders als für Zwei Mädchen im Krieg dargestellt, sind diese Dynamiken in der Rezeption aber nicht explizit nachvollziehbar. In jedem Fall hätte der/die Initiator_in aber aufgrund der Anlage der Projekte die alleinige Möglichkeit, diese für beendet zu erklären, was wiederum der strukturgebenden Position von Steinaecker entspricht.40

Im Gegensatz zur Begrenztheit des Autor_innen-Kreises in kooperativen Projekten ist die Anzahl der Verfasser_innen in Mitschreibeprojekten potentiell unbegrenzt. Die beteiligten Autor_innen schreiben zudem großenteils ebenfalls unter Pseudonymen. Pseudonym verfasste Werke existieren in nicht geringer Zahl auch in der Print-Literatur, wobei hier – wie kürzlich der Fall Elena Ferrante gezeigt hat – häufig große mediale Energie auf die Enttarnung der Autor_innen verwendet wird. In der Kombination von Pseudonymität mit der Vielzahl der potentiell fluktuierenden Autor_innen wird in Mitschreibeprojekten eine solche Fokussierung auf den/die Schöpfer_in sowie eine Inszenierung seitens der Autor_innen aber weitgehend verunmöglicht.41 Noch stärker als im vorgestellten kooperativen Projekt wird hier die »klassifikatorische Funktion«42 nivelliert, die Foucault dem Autornamen in Bezug auf den Text zuschreibt. Die Masse der Einzelautor_innen tritt zugunsten des Werks in den Hintergrund. Dies zeigt sich inhaltlich auch daran, dass das ›Schreiben über das Schreiben‹ für die beiden Mitschreibeprojekte jenseits der im Rahmen der Prologe erklärten »Spielregeln« keine Rolle spielt. Der Fokus liegt hier klar auf der Entwicklung fiktionaler Geschichten. Als zentraler Referenzpunkt bleibt aufgrund der weitgehenden Unsichtbarkeit der Autor_innen nur der jeweilige Titel. Diese Tendenz wird allerdings auch dadurch verstärkt, dass »Zauberfee« und »Moordrache« ebenfalls auf persönliche Angaben verzichten und somit die Rückkopplung an ein kohärentes Autorsubjekt jenseits des Pseudonyms verhindern.43

In der instabileren auktorialen Konstellation der Mitschreibeprojekte sind das stetige Weiterschreiben und die potentielle Unbegrenztheit des Werks angelegt. Dies gilt für Caala-Elen, wie das »Intro« betont, in besonderer Weise:

Im Gegensatz zu den sonstigen interaktiven Mitschreib-Stories hat der Netzroman nicht einfach nur einen Anfangspunkt, der Teil für Teil weiter entwickelt wird, sondern gleich mehrere Einstiegspunkte. Zu diesen können Fortsetzungen geschrieben werden. Aber weit gefehlt, wer meint, hier ginge es nun gradlinig weiter! Denn eine weitere Unterscheidung besteht darin, dass an jeder Stelle des Romans neue Teile angefügt werden können.44

Die tatsächlichen Erweiterungsmöglichkeiten sind also von der spezifischen Anlage jedes Projekts abhängig, die wiederum auf den/die Initiator_in zurückzuführen ist. Dies gilt nicht nur bezogen auf die Möglichkeiten der Kombinatorik einzelner Texte, sondern ebenfalls hinsichtlich der perspektivierten narrativen Struktur. Im Vergleich mit dem kooperativen Projekt Zwei Mädchen im Krieg lassen sich hierfür Differenzierungen treffen. Zwei Mädchen im Krieg ist in seiner Entfaltung durch zeitliche und narrative Vorgaben begrenzt, wobei sich letztere als durchaus dehnbar erwiesen haben. Mitschreibeprojekte unterliegen keiner oder einer sehr weiten zeitlichen Begrenzung und die narrative Einschränkung fällt (tendenziell) deutlich schwächer aus, wenn die einzelnen Texte – wie etwa bei den beiden »interaktiven Netzromanen« Magische Welt und Caala-Elen – über eine fiktionale Welt miteinander verknüpft sind, als wenn wie bei Zwei Mädchen im Krieg ein konkreter Plot den Referenzpunkt bildet.45 Dies lässt sich anschaulich anhand von Fanfictions beobachten, die in auktorialer Hinsicht ebenfalls als Mitschreibeprojekte zu qualifizieren sind, wobei der Referenzrahmen hierbei nicht auf eine_n Initiator_in, sondern eine_n fremde_n Autor_in bzw. dessen/deren Werk zurückgeht.46 Bei den Hypotexten, welche aktuell auf dem Portal FanFiktion.de die meisten Anschlusskommunikationen erzeugt haben, handelt es sich durchweg um mehrteilige Werke aus dem Fantasy-Genre, die eine spezifische fiktionale Welt begründen, in deren Rahmen potentiell unendlich viele in Stil und/oder Inhalt mehr oder weniger eng an die Originale anschließende Fortschreibungen denkbar sind.47

In solchen Fällen verschwimmen die Genre-Grenzen zwischen Fanfictions als dezidierten Anschlusskommunikationen und ›eigenständigen‹ Mitschreibeprojekten wie den beiden oben dargestellten aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten. Zudem beziehen sich auch Magische Welt und Caala-Elen auf eine ›Vorlage‹ in Form des »ersten interaktiven Netzromans« Die Säulen von Llacaan, der nur noch über das Webarchiv abrufbar ist,48 aber in beiden Folgeromanen gemeinsam mit seinem Initiator Roger Nelke als Referenz benannt wird.

In diesem Zusammenhang zeigen sich entscheidende Charakteristika der Mitschreibeprojekte, welche als Gegenbewegung zur potentiell unendlichen Erweiterbarkeit und damit Unabgeschlossenheit der Werke Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit durch verschiedene Strategien der Referenzstiftung vermitteln. So basiert die enge Beziehung der beiden Netzromane Caala-Elen und Magische Welt gerade nicht auf der Einheitlichkeit der erzählten Welt(en) und Charaktere, sondern maßgeblich auf der oben anhand von Caala-Elen exemplarisch zitierten Schreibstruktur, der Strukturierung der Webseiten sowie der narrativen Verknüpfung einzelner Kapitel der beiden Romane.49 Der Bezug wird – da hierfür einheitliche Autorschaft als Markierung nicht zur Verfügung steht – auf Werkebene durch die serielle Gattungsbezeichnung sowie wechselseitige Verweise auf die jeweils anderen Titel unmittelbar auf den Startseiten von Magische Welt und Caala-Elen kommuniziert, wobei der jeweilige Name des Initiators bzw. der Initiatorin an die Stelle des nicht verfügbaren Autornamens rückt, obwohl dieser aufgrund der Pseudonymität und des Verzichts auf biografische Angaben als reiner Name ohne Referenz zu einer Person besteht.50 Diese auch technisch realisierten Links werden gestützt durch das einheitliche Layout der beiden Webseiten, auf das in Magische Welt explizit verwiesen wird: »Das Layout dieses Netzromans orientiert sich stark an dem der ersten beiden Netzromane (s. oben!).«

Indem diese Merkmale – Titel, Gattungsbezeichnung, Vorgabe von Struktur und Layout – auf die Initiator_innen der Projekte zurückzuführen sind, können diesen Autorfunktionen zugeschrieben werden, die maßgeblich für die grundlegende Ausrichtung sowie die Werkförmigkeit der Mitschreibeprojekte sind.51 Dies gilt allerdings nicht für die hypertextuelle Struktur innerhalb der einzelnen Projekte, die durch die (von den Initiator_innen verfügte) Vervielfältigung von Einstiegspunkten und damit von möglichen Fortsetzungen entsteht. In verlinkten Übersichten und zu Beginn der jeweiligen Kapitel wird für die Rezipierenden das zu allen Seiten offene Netz untereinander verknüpfter Kapitel verschiedener Autor_innen auf Ebene des Einzelwerks sowie hinsichtlich der Serie als Ganze sichtbar. Im Gegensatz zum personell und zeitlich begrenzten Projekt Zwei Mädchen im Krieg bildet die ausgeprägte Referenz auf narrativer, struktureller und paratextueller Ebene den entscheidenden Faktor der Zusammenhangsstiftung im Rahmen eines konstitutiv unabgeschlossenen Werks.52 Sie bewirkt die »Inbezugsetzung der Texte untereinander«,53 die Foucault für den Autornamen postuliert. Da diese Strukturierung auf das Ineinandergreifen künstlerischer Tätigkeiten verschiedener Akteure zurückzuführen ist, erscheint es in der Interpretation der Mitschreibeprojekte allerdings gewinnbringender, diese Funktion sowie die inhaltliche Ausgestaltung der Handlung jenseits konkreter Autorschaften auf Werkebene zu verorten und in Relation zu den strukturierenden Vorgaben der Initiator_innen zu setzen.

5. Aktive Leser zwischen Kommentatoren und Kollaborateuren

Ein Mitschreibeprojekt unter anderen strukturellen Vorzeichen stellt der »1. Facebook-Roman« Zwirbler54 dar, der zwischen 2010 und 2014 auf einer eigenen Facebook-Seite im Dialog mit ca. 16.000 angemeldeten Nutzer_innen vom Autor Gergely Teglasy alias TG verfasst wurde. Dieses Projekt knüpft also nicht nur an Social Media-Formate an, sondern nutzt ein solches dezidiert gegen den Strich: nicht für die ephemere Alltagskommunikation, sondern für die Produktion eines literarischen Werks.

Der Autor hatte hierfür im Gegensatz zu den Initiator_innen der bisher verhandelten Projekte als Ausgangspunkt einzig den Namen vorgegeben, der gleichermaßen Titel und Name der Hauptfigur ist. Die Romanhandlung entfaltete sich in Form von Facebook-Statusmeldungen, wobei die Rezipierenden diese von Anfang an durch Kommentare beeinflussen konnten.55 Die Abgabe von ›Handlungsmacht‹ im Sinne der Vorgabe einer Plotline oder Vorgeschichte kontrastierend, besteht hier also eine eindeutige Hierarchie auf Verfasserebene mit einem Hauptautor, der stilistisch die »Einheit des Schreibens«56 garantiert, dem allerdings nur noch bedingt Gestaltungs- und damit Bedeutungs-, Erkenntnis- und Innovationsfunktionen zugeschrieben werden können. Die konkrete Entwicklung der Geschichte speist sich maßgeblich aus den auf der Seite für alle sichtbaren Ideen einer großen Anzahl an Mitschreibenden, aus denen Teglasy eine Auswahl für den Haupttext trifft.57 Dieses Konzept garantiert – so lässt sich im Vergleich mit Zwei Mädchen im Krieg feststellen – eine deutlich höhere Kohärenz auf Ebene der erzählten Geschichte und damit eine größere narrative Geschlossenheit des Werks. Histoire und Discours sind allerdings hierbei nicht mehr eindeutig der gleichen Instanz zuzuschreiben.

Außerdem kommt es – ähnlich wie bei Zwei Mädchen im Krieg im kleineren Rahmen beobachtet – zu einer Vermischung von ›eigentlichem Text‹ und Kommentar, indem hier allerdings umgekehrt die Handlung teilweise auch in den Kommentaren weitergeführt wird und dadurch einem/r Verfasser_in zugeordnet werden kann, der/die nicht der Hauptautor Teglasy ist. Indem sich diese Sequenzen zwischen die in den Posts stehenden ›Hauptteile‹ schieben und im Fortgang der Narration auf Inhaltsebene mit diesen verwoben werden, wird letztlich auch die stilistische Einheit ein Stück weit ausgehebelt. Die Kommentierenden sind zudem auf der Seite namentlich sowie durch die Verknüpfung zu ihren eigenen Facebook-Profilen deutlich sichtbarer als der Hauptautor, dessen Name nur im Impressum genannt wird.

Zum Ende des Romans zeigt sich allerdings wiederum die hierarchische Seite dieser kommentierenden Kollaboration: Der Hauptautor Teglasy verfasste den Schluss des Romans nicht auf Facebook, sondern im Rahmen einer Buchpublikation, in die die gesammelten Facebook-Texte überführt wurden. Diese ging nicht nur mit einer umfangreichen Autorschaftsinszenierung in Form von Videos, Lesungen und Signierstunden einher, sondern entlarvt das Projekt letztlich auch ein Stück weit als clevere Marketingstrategie. Die vielen Fans und Mitschreibenden, die Zwirbler mittlerweile gewonnen hatte, durften zwar wie gewohnt Vorschläge für das Ende des Romans machen, mussten aber für die Auflösung das Buch kaufen bzw. dessen Erscheinen überhaupt erst durch eine Spende ermöglichen.58

Dem Hauptautor Teglasy kommen also zentrale Kompetenzen zu, die relevant für die Werkförmigkeit von Zwirbler sind: Er gibt den Titel vor, entscheidet darüber, wann der Text abgeschlossen ist, initiiert die Publikation und bildet das ›Gesicht‹ der damit verbundenen Marketingkampagne. In diesen Kompetenzen mischen sich interpretatorisch relevante Faktoren mit den Insignien ökonomisch motivierter »Werkherrschaft«.59 Indem der kreative Entstehungsprozess zwischen Betitelung und Ende des Textes sich beobachtbar dynamisch zwischen verschiedenen Instanzen vollzieht, erscheint die Zuschreibung von Autorfunktionen aber nur partiell hilfreich für die Beantwortung interpretatorischer Fragen.

Grundlegende Funktionen im Hinblick auf die Gestaltung und Verortung des Werks können hingegen dem Rahmen der Textproduktion – also der mit »Zwirbler« betitelten Facebook-Seite – zugeschrieben werden. Neben den Spezifika der wiederum dialogischen Kommunikationssituation sind dies orientierende Merkmale wie zeitlicher und kultureller Kontext. Die Seite macht durch eindeutige Datumsangaben der einzelnen ›Episoden‹ aber nicht nur den Produktionsprozess anschaulich, sondern gibt auch das Layout vor, welches sich wiederum auf die Schreib- und Lektüremöglichkeiten auswirkt. Dies bedingt beispielsweise, dass jede Episode mit dem Namen des Protagonisten anfängt und maximal 420 Zeichen lang ist, sowie die Verkehrung der Lektürerichtung von unten nach oben, da bei Facebook immer die neuesten Beiträge zuerst angezeigt werden. Da das mediale Format entscheidend zur Strukturierung von Zwirbler beiträgt und gleichermaßen Entstehungs- und primäre Publikationsplattform desselben darstellt, können ihm bestimmte Werkfunktionen zugeschrieben werden, die in den beiden zuvor verhandelten Mitschreibeprojekten Magische Welt und Caala-Elen den Initiator_innen zukommen. Bei Zwirbler funktionieren sie hingegen unabhängig von der konkreten Autorschaft und knüpfen sich stattdessen an die vom Programm hinter der Facebook-Seite vorgegebenen Funktionen, dem entsprechend in Wechselwirkung mit der vom Autor Teglasy getroffenen Wahl des Formats bestimmte Autorfunktionen zuerkannt werden müssen.60 Eine noch stärkere Form des Ineinandergreifens menschlicher Kreativität und maschineller Strukturierung kennzeichnet die Werke der im Folgenden abschließend betrachteten Autorenkollektive.

6. Autorenkollektive: Mensch-Maschine-Kollaborationen

Die digitalen Autorenkollektive 0x0a und ANd-OR zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehrere Texte unter einem gemeinsamen Namen auf einer eigenen Webseite präsentieren. Dies geht mit spezifischen Ausprägungen der literarischen Gestaltungsweisen einher und hat Auswirkungen auf die Präsentationsmöglichkeiten und Inszenierungen der Autor_innen. Indem die Kollektive auf mehr oder weniger dauerhafte Zusammenarbeit über ein einzelnes Projekt hinaus angelegt sind, bezieht sich ihr gemeinsamer Fokus eher nicht auf ein Thema, eine Handlung oder erzählte Welt, wie dies für die bisher betrachteten Projekte festgestellt wurde, deren Nukleus ein gemeinsames erzählerisches Ziel darstellt. Stattdessen bildet – vergleichbar mit künstlerischen Gruppierungen im analogen Raum – ein Programm literarischen Schreibens den gemeinsamen Fixpunkt, welches auf den Webseiten der Kollektive jeweils unter einem gesonderten Reiter abrufbar ist.61

Die Programmatiken beider Kollektive beziehen sich explizit auf die »Möglichkeiten von Text im Digitalen«62 bzw. grundsätzlicher die »new modes of interactivity and concreativity between machines and their human users«.63 Diese selbstreflexiven Ansätze gehen mit einem systematischen Ausloten der geänderten Bedingungen digitaler Literaturproduktion einher. Dies bedingt eine Schwerpunktsetzung auf das Schreiben von maschinenlesbaren Programmen, welches zum ästhetischen Ausdrucksmittel und damit zum Merkmal künstlerischer Befähigung avanciert.64 Insbesondere auf der Webseite von 0x0a werden die programmiertechnischen Aspekte in ›Vorworten‹ zu den einzelnen Werken explizit dargestellt und damit als künstlerische Tätigkeiten ausgestellt, während Projekte von ANd-OR wie Nanorunners65 oder PikselBacteria66 gestalterisch an die Ästhetik und Funktionsweisen von Computerspielen anknüpfen. Die Verschiebung im Schaffensprozess geht damit einher, dass die für technische Anwendungen und Computerspiele übliche Entwicklung im Programmier-Kollektiv und die damit verbundene Vorstellung gemeinsamer Autorschaft Einzug halten in die Produktion literarischer Werke.67

Dabei wird die Autorfunktion der einheitlichen Schreibweise in Bezug auf die menschenlesbare Schrift gleichzeitig unterminiert, indem sich die Werke der beiden Kollektive maßgeblich fremder Texte bedienen, welche sie mithilfe der Skripte und Programme literarischen Werken, Alltagstexten sowie der Kommunikation über digitale Kanäle und Foren wie Twitter und Facebook entnehmen bzw. die die Rezipierenden selbst beisteuern können.68 Anders als beim Facebook-Roman Zwirbler werden hierbei also nicht fremde Ideen in die eigene Sprache ›übersetzt‹, sondern Originalschreibweisen Dritter algorithmisch gefiltert und die Ergebnisse zu eigenen Texten zusammengefügt. Damit ist insbesondere für jene Werke, die sich auf literarische Vorlagen beziehen wie etwa 0x0as Durchschnitt. Ein Roman,69 der Bezug auf die Hypotexte, für andere Werke hingegen jener auf bestimmte mediale Formate und damit verbundene Kommunikationsformen entscheidend. Im Gegensatz zu den Anschlusskommunikationen der Fanfictions wäre hierbei aber eher von einer ›anarchistischen‹ Verwendung fremden Materials zu sprechen.70

Das Ergebnis ist wiederum ein Auseinanderfallen der künstlerischen Kompetenzen von Konzept, Selektion, Kombinatorik und werkförmiger Rahmung durch Titel und Präsentation in zweifacher Hinsicht: Von den genannten Kompetenzen verbleiben lediglich die erste und die letzte definitiv beim Kollektiv, werden also von den verschiedenen Künstler_innen gemeinsam oder arbeitsteilig erbracht, während sich die übrigen, ähnlich wie bei den Mitschreibeprojekten, in unterschiedlichen Gewichtungen zwischen verschiedenen Instanzen aufspalten, zu denen die Künstler_innen nur teilweise selbst gehören. Von den von Jannidis benannten Autorfunktionen ist damit nur noch die letzte, die »Innovationsfunktion«71 eindeutig beim Autor/bei der Autorin zu verorten, wenn man diese auf das Konzept und die damit verbundene Reorganisation von Material bezieht. Die Bedeutungs- sowie die Erkenntnisfunktion hängen hingegen initial von den Funktionen der Selektion und Gestaltung ab,72 die das Kollektiv nicht vollumfänglich kontrolliert.73 Stattdessen legen die Arbeiten der beiden Kollektive die Notwendigkeit der Erweiterung der anvisierten Autorfunktionen auf die Ebene der Gestaltung der maschinenlesbaren Schrift nahe, die insbesondere bei ANd-OR dem Kollektiv als Ganzem zugeschrieben werden muss,74 sich teilweise aber auch als kreative Anwendung bestehender Programme gestaltet.

Der Dispersion auf Ebene des menschenlesbaren Werks gegenüber steht allerdings neben den Schreibpraktiken auf technischer Ebene jeweils auch der gemeinsame Name des Kollektivs. Dieser ersetzt hier gewissermaßen die Namen der Einzelautor_innen als zentrale Referenzpunkte für die präsentierten Texte und bildet – ähnlich wie bei Zwirbler – gleichzeitig eine Art ›Obertitel‹ für die gemeinsame Produktion.

Die Kombination aus gemeinsamem Namen, Programmatik und Webseite bildet einen inszenatorischen Rahmen, der auch visuell Einheitlichkeit kommuniziert und den Künstler_innen gleichzeitig große Freiheiten in der Gestaltung sowie die Möglichkeit der unmittelbaren Einbindung ihrer künstlerischen Werke bietet. Anders als im Fall des Facebook-Romans oder des Projekts Zwei Mädchen im Krieg unterliegt die Gestaltung dieses Rahmens den Vorstellungen der Kollektive selbst. Diese Ebene des Schreibens von Stylesheets für die Webseitengestaltung impliziert daher, wie im Falle der beiden Netzromane Magische Welt und Caala-Elen, ebenfalls auktoriale Handlungen, die hier aber wiederum nur dem Kollektiv zugeschrieben werden können. Die präsentierten Texte werden durch diesen Rahmen als signifikante Kommunikationseinheiten, als Werke des jeweiligen Kollektivs markiert. Der direkte Bezug zwischen Kollektiv und Werk, den die digitale Präsentation ermöglicht, lässt die Einzelkünstler_innen zugunsten des gemeinsamen Auftritts in den Hintergrund rücken.

Beide Webseiten als Paratexte changieren allerdings zwischen der Inszenierung kollektiver Autorschaftspraktiken und der Präsentation von Einzelkünstler_innen: Letztere werden jeweils in den Programmatiken explizit benannt. Während für die einzelnen Werke von 0x0a aber jeweils Einzelautorschaften ausgewiesen werden, nennt die Webseite von ANd-OR zu den Einzelwerken nur den Kollektivnamen, der auf diese Weise auch zum zentralen Bezugspunkt für Autorschaftszuschreibungen wird. Auch die Webseite von 0x0a enthält allerdings mit Glaube, Liebe, Hoffnung ein dezidiert kollaboratives Werk, für das zwei Künstler als Autoren ausgewiesen sind, ohne dass hierbei der jeweilige künstlerische Input festzustellen wäre.75 Umgekehrt sind unter dem Reiter »about« auf der Seite von ANd-OR nicht nur die Namen, sondern auch Kurzbiografien und Fotos der Einzelkünstler_innen aufgeführt. Die Autor_innen bleiben also hinter der kollektiven Inszenierung mit Klarnamen und bei ANd-OR biografischen Angaben weiterhin sichtbar, einzelne Werke werden betitelt und bei 0x0a dem oder den jeweiligen Autoren zugeordnet.76

Der durch den Namen und die gemeinsame Inszenierung vermittelten Einheit des Kollektivs stehen die einzelnen Autor_innen ebenso gegenüber wie der durch das Konzept und die Rahmung kommunizierten Einheit des Werks die Vielfalt und stilistische sowie sprachliche Dispersion der einzelnen Texte. In der beide Kollektive auszeichnenden Überlagerung dieser Phänomene tritt maßgeblich die gestalterische Kraft der Präsentation in einer digitalen Umgebung hervor, welche es ermöglicht, ein multimodales Netz vielfältiger textueller und personeller Einheiten unter der gleichförmigen Oberfläche einer Webseite als dynamisches Gesamtwerk jenseits auktorialer Singularität zu synthetisieren.77

7. Multiple Autorschaft und digitale Werke: Einheit der Vielfalt

Anhand der diskutierten Beispiele ist zumindest ansatzweise das breite Spektrum der Spielarten multipler Autorschaft in der digitalen Literatur deutlich geworden, wobei sich insbesondere im Vergleich zeigt, dass die Zuschreibung von Autorfunktionen nur noch bedingt dabei hilft, interpretatorische Fragestellungen in Bezug auf die untersuchten Texte zu beantworten, weil Autorschaft und Werk nicht mehr unproblematisch als wechselseitig aufeinander referenzierende Größen betrachtet werden können. Stattdessen wird die Vielfalt der in den Text eingehenden ›Stimmen‹ und Ideen in allen untersuchten Beispielen offensiv ausgestellt. Allerdings zeichnen sich alle betrachteten Beispiele durch ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Vielfalt aus, was die Relevanz von
Kohärenzstiftungsstrategien insbesondere bei literarischen Projekten mit multipler Autorschaft ebenso offensichtlich macht. Davon zeugt auch die Tatsache, dass eine zu Beginn dieses Beitrags erwähnte Kategorie multipler Autorschaft, nämlich kollaborative Projekte ohne ausgewiesene Einzelautorschaften nicht genauer beleuchtet wurde. Zum einen gibt es kaum Projekte jenseits von Autorenkollektiven, die ohne ausgewiesene Einzelautorschaften auskommen. Die wenigen existierenden wie The World’s First Collaborative Sentence78 und Log-Buch einer gemeinsamen Reise79 sind in der Präsentation bzw. Kommunikation zum anderen sehr stark an jeweils singuläre Initiatoren als einzige namentlich benennbare Akteure gebunden. Dies zeigt, dass eine vollständig autorlose Produktion auch im Internet aufgrund etablierter Diskursmuster, aber auch aus (urheber-)rechtlichen Gründen kaum möglich erscheint.80

In den vorangegangenen Untersuchungen konnten vielfältige Beispiele für die Herstellung von Kohärenz festgestellt werden, in denen durchaus Elemente analoger Praktiken fortgeführt werden, die sich aber bezogen auf das Werk als Ganzes nicht mit dem Konzept eines singulären kohärenten Autorsubjekts verbinden, da ihnen auf anderen Werk- und Produktionsebenen stets Merkmale der Multiplikation von Autorschaft entgegenstehen. Neben der für alle untersuchten Beispiele großen Relevanz von Titeln bzw. Kollektiv-Namen existiert häufig ein_e Initiator_in, der/die die »Parameter der Interaktion«81 vorgibt, aber nicht (alleinige_r) Verfasser_in der Texte bzw. Schöpfer_in des Konzepts ist. Diese Vorgaben können zudem – wie teilweise bei Zwei Mädchen im Krieg – von den (anderen) Verfasser_innen missachtet werden82 und sich weiterhin auf unterschiedliche Parameter beziehen: Zwei Mädchen im Krieg zeichnet sich durch die Vorgabe eines narrativen Rahmens aus, den beiden Mitschreibeprojekten Caala-Elen und Magische Welt liegt eine vorgegebene fiktionale Welt zugrunde. Diese Vorgaben fehlen bei Zwirbler, wo stattdessen eine (mehr oder weniger) konstante Schreibweise Einheitlichkeit verbürgt.

Bei den Kollektiven ANd-OR und 0x0a bezieht sich die gemeinsame Schreibpraxis maßgeblich auf die maschinenlesbare Ebene der Schrift, welche auf der menschenlesbaren Ebene hingegen eine Dispersion der Schreibweisen bewirkt. Allerdings sorgen hier zudem das gemeinsame Konzept sowie der Kollektivname für Kohärenz und in ähnlicher Weise lässt sich zumindest auf formaler Ebene auch die Gattungsbezeichnung »Roman« bei Zwirbler, Zwei Mädchen im Krieg, Caala-Elen und Magische Welt interpretieren, die schon Max Brod nutzte, um die fragmentierten Texte Franz Kafkas als Werk zu instanziieren.83

Die unterschiedlichen Parameter der Kohärenzstiftung verweisen auf einen Zusammenhang von Autorschaftskonstellation und literarischer Gestaltung: Die Hierarchie der beteiligten Autor_innen sowie die Stabilität der Konstellation wirken sich – so legen die hier untersuchten Beispiele nahe – signifikant auf die literarischen Strukturen der Texte aus. Jedoch erweisen sich die literarischen Formen und Autorschaftskonstellationen als zu divers, um hieraus eine Typologie im Sinne einer eindeutigen Kombinatorik von Autorschaftskonstellationen und literarischen Genres abzuleiten.84  Darauf verweisen bereits die in den vorangegangenen Untersuchungen immer wieder festgestellten Überschneidungen auf struktureller Ebene sowie die eher graduelle Verortung verschiedener Konstellationen auf einer Skala zwischen (Inter-)Aktion und Kommentierung. Dabei zeugen gemeinsame Muster der Kohärenzstiftung beispielsweise durch Titel, Namen und Gattungsbezeichnungen von bestimmten konstanten Strategien bei der Herstellung von Werkförmigkeit im Digitalen.

Hinzu kommt die jeweils festgestellte Relevanz des gestalterischen Rahmens,85 wobei hier die ›Autorschaft‹ entweder bei den Künstler_innen oder bei externen Institutionen liegen kann bzw. im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen verortet werden muss. Die diskutierten Projekte verdeutlichen, dass in dem Moment, in dem Schreiben und Publizieren im Internet näher zusammenrücken, die Modellierungsfunktion medialer Formate selbstverständlicher in die künstlerische Gestaltung einbezogen werden kann bzw. muss, wobei deren strukturierende Wirkung auf vielfältige Interaktionen zwischen Menschen und Maschinen zurückzuführen ist.86

Im Rahmen multiplizierter Autorschaft bezieht ein Text seinen Werkstatus daher weder aus der zwangsläufigen Abhängigkeit von einem_r Autor_in, der/die geistiges Schöpfertum und Urheberschaft auf sich vereint, noch aus der institutionellen Sanktionierung durch die Akteure des Literaturbetriebs. Das digitale Werk ist weniger fixiertes Produkt87 als ein dynamisches, offenes Projekt88 und bildet als solches den gemeinsamen Bezugspunkt für kreative, kohärenzstiftende und instanziierende Prozesse mit mehr oder weniger eindeutig verortbarer Urheberschaft.89

Statt aber das Konzept des Autors/der Autorin für digitale Literatur mit multiplizierter Autorschaft gänzlich abzulehnen,90 wird hier auf der Basis der untersuchten Beispiele dafür plädiert, verschiedene Werkfunktionen wie Titel, Plot, Schreibweise, paratextuelle Gestaltung zu differenzieren und dabei jeweils werkspezifisch danach zu fragen, in welchen Fällen die Zuschreibung einer Autorfunktion hilfreich für die Interpretation ist. Ist dies für bestimmte Werkfunktionen nicht der Fall, erscheint es gewinnbringender, diese stärker unabhängig vom Konzept der Autorschaft zu denken und sie stattdessen hinsichtlich ihrer Verortung auf Werkebene zu beschreiben sowie nach alternativen Einflussfaktoren wie beispielsweise medialen Dispositiven zu fragen. Eine solche Bestimmung der Relationen von Autor- und Werkfunktionen könnte perspektivisch auch zu einer differenzierten Systematisierung von digitalen Schreibweisen und Werkformen beitragen.

Im Verhältnis von Autorschaft und Werk würde dies eine Perspektivverschiebung zugunsten des Werks bedeuten, indem nicht mehr ein_e Autor_in die Referenz dafür bildet, was für einen Werkzusammenhang als relevant erachtet wird, sondern das Werk selbst den Ausgangspunkt der Beobachtungen darstellt. Der Werkbegriff erscheint geeignet, die Vielfalt der beobachtbaren »Textumgangsformen«91 unter einer zwar dynamischen, prozessualen, aber dennoch systematisierenden Einheit zusammenzufassen. Die Einheit des Werks liegt dann nicht mehr »jenseits seiner materiellen Erscheinung«,92 sondern formiert sich als solche im Sinne eines Netzwerks textueller Relationen, welche sich anhand ihrer Zugehörigkeit zum Werk zu Beobachtungseinheiten zusammenschließen.

8. Auswirkungen des digitalen Paradigmas: alternative Konzepte und Perspektiven in und auf Literatur

Allerdings sind insbesondere bei Zwei Mädchen im Krieg und Zwirbler »Interferenz[en] von traditionellem Bild und digitaler Medienpraxis«93 zu beobachten, die nicht zuletzt auf verlagsseitige Vermarktungsstrategien zurückzuführen sind. Dies verweist auf eine praktische Konsequenz aus der Dispersion auktorialer Funktionen im Zuge der Multiplikation von Autorschaft. Die Werke lassen sich nur noch bedingt entsprechend der gängigen (rechtlichen und/oder strategischen) literaturbetrieblichen Konventionen vermarkten94 bzw. eine entsprechende Vermarktung steht, wie bei Zwirbler, in gewissem Widerspruch zur tatsächlichen Autorschaftspraxis.

Viele Beispiele digitaler Literatur eint allerdings gerade der Umstand, dass sie sich den offiziellen Gratifikationsmechanismen von Verlag und Literaturkritik explizit entziehen, indem die Werke wie bei den Autor_innenkollektiven und den beiden Mitschreibeprojekten auf eigenen Webseiten im Open Access zugänglich sind. Produktions-, Publikations- und Rezeptionspraktiken situieren sich hierbei im Rahmen eines spezifisch digitalen Trends, der ein breites Spektrum von literarischen und literaturwissenschaftlichen Blogs sowie kollaborativen Transkriptions- und Annotationsprojekten95 bis hin zu digitalen wissenschaftlichen Editionen96 abdeckt.97 Dabei geraten feste Rollenzuweisungen und Hierarchien von Schöpfer_innen, Verfasser_innen und Rezipient_innen ins Wanken, indem der virtuelle Raum die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Kommunikationsinstanzen und damit unmittelbare Adressierbarkeit im Medium der Schrift restituiert.98 Wie für die diskutierten literarischen Beispiele festgestellt, bestehen hierarchische Verhältnisse dabei eher im Sinne von Abstufungen auf einer Skala möglicher Konstellationen; Autor_innen sind gleichzeitig Herausgeber_innen, Rezipient_innen und Kritiker_innen in einem kommunikativen Netz vielfältiger Relationen. Der mit der Publikation im Netz einhergehende Abbau institutioneller Schwellen lässt auch die Grenzen zwischen literarischen Amateur_innen und professionellen Autor_innen brüchiger werden, da bei Wegfall der Notwendigkeit einer Bestätigung durch die offiziellen Vertreter_innen des Literaturbetriebs die Anhaltspunkte für eine solche Statuszuschreibung destabilisiert werden.99

Die freie Zugänglichkeit im Open Access ist für viele der betrachteten Beispiele von strukturellem Vorteil, grundsätzlich ist sie aber ebenfalls Ausdruck einer im Zuge digitaler Kommunikationspraktiken gewandelten »Werkpolitik«, die sich auf die möglichen »Zuschreibungen und Anforderungsprofile«100 an digitale Werke auswirkt: Indem Prozesshaftigkeit und Dialogizität bewusst ausgestellt werden, wirkt das Werk in dieser Perspektive erstens nicht mehr als abgeschlossenes Ganzes. Zweitens wandelt sich das Verhältnis von Literaturbetrieb und Werk, indem die Instanziierungskompetenz (und die damit verbundenen Gestaltungsweisen) für das digitale Werk nicht mehr notwendigerweise externalisiert, sondern das Publikationsformat selbstverständliches Element im Textproduktionsprozess wird. Drittens werden im Rahmen der veränderten Werkpolitik nicht nur Texte anderer kommentiert und nachgenutzt, sondern die eigenen werden ebenso der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt.

Diese letzte Perspektive korreliert mit Diskussionen um das »Eigentumssystem« unserer Gesellschaft, in deren Rahmen die Rolle von Werken als »Aneignungsobjekte«101 partiell zugunsten einer allgemeinen Nutzbarmachung in Frage gestellt wird. Die Auswirkungen dieser Perspektivverschiebungen im Zuge der breiten Disponibilität textueller Ressourcen im Internet auf die Funktionsweisen des literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurses lassen sich heute schon in Ansätzen in den Digitalen Geisteswissenschaften sowie anhand der Urheberrechtsnovelle für die »Wissensgesellschaft«102 beobachten.

Bereits zu Beginn dieses Beitrags wurde allerdings herausgestellt, dass dies aktuell (noch) keinen radikalen Wandel auf dem Gebiet der literarischen Produktion und Publikation bedeutet. Auch wenn Verlage vermehrt auf die Vermarktung von E-Books setzen, funktionieren der Buchmarkt und das daran geknüpfte literarische Feld noch immer anhand der Paradigmen singulärer Autorschaft und abgeschlossener Werke. Dennoch verweisen »experimentelle« digitale Projekte wie das im Open Access zugängliche Zwei Mädchen im Krieg, literarische Apps und von Verlagen organisierte Mitschreibeprojekte auf der einen Seite sowie professionell gestaltete Webseiten zur Präsentation literarischer Werke auf der anderen Seite auf den wachsenden Einfluss digitaler Paradigmen auf den ›offiziellen‹ Markt sowie Transgressionen der Grenze zwischen digitaler Selbstorganisation und institutionell sanktionierter Literatur.103

Nicht zuletzt beeinflussen digitale Paradigmen die (wissenschaftliche) Perspektive auf Literatur im Allgemeinen. So lassen sich nicht nur Anknüpfungspunkte der digitalen Werke an verschiedene analoge Traditionen ausmachen, sondern das Paradigma multipler Autorschaft und daran geknüpft des dynamisierten Werks ermöglichen einen neuen Blick auf literarische Produktions- und Publikationsprozesse, die verstärkt in ihrer Netzwerkhaftigkeit perspektiviert werden.104 In der digitalen Edition ebenso wie anhand aktueller Übersetzungen lassen sich zudem Tendenzen weg vom kanonischen Einzeltext und hin zu verschiedenen, egalitär präsentierten Fassungen unterschiedlicher Verfasser_innen beobachten.105 Dies zeugt nicht nur von der gesteigerten Akzeptanz alternativer Werk-Versionen, sondern ebenso von einer gewandelten Perspektive auf das Paradigma künstlerischer Originalität.

Die Etablierung multipler Autorschaft in der digitalen Literatur hat damit Teil an grundlegenden Verschiebungen in der Wahrnehmung und Präsentation literarischer Produktionsprozesse im Rahmen des aktuellen Medienwandels, welche eine Erweiterung literaturwissenschaftlicher Perspektivierungen von Autor und Werk im Spannungsfeld analoger und digitaler Paradigmen bedingen.106

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  • 1. Florian Hartling: Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets. Bielefeld 2009, S. 38.
  • 2. Für einen Überblick über das Feld digitaler Literatur vgl. N. Katherine Hayles: Electronic Literature. New Horizons for the Literary. Notre Dame / IN 2008, Kap. 1 sowie für den deutschsprachigen Raum Simone Winko: »Literatur und Literaturwissenschaft im digitalen Zeitalter. Ein Überblick«. In: Der Deutschunterricht 5.16 (2016), S. 2–13.
  • 3. Vgl. zur Verwendung des Terminus der multiplen Autorschaft in diesem Sinne bezogen auf Schreibpraktiken der Postmoderne Mirjam Horn: »›Breeding monsters out of its own flesh‹. Multiple Autorschaft in postmoderner Plagiatsliteratur«. In: Matthias Schaffrick u. Marcus Willand (Hg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin u. Boston 2014, S. 307–330.
  • 4. Vgl. zu letzterem Punkt John Cayley: »The Code is not the Text (unless it is the Text)«. In: electronic book review (10.09.2002) http://www.electronicbookreview.com/thread/electropoetics/literal (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 5. Vgl. Matthias Schaffrick u. Marcus Willand (Hg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin u. Boston 2014.
  • 6. Jannidis erkennt darin die »Brauchbarkeit, eventuell sogar die Unhintergehbarkeit dieses Konzepts innerhalb bestimmter Fragestellungen und kultureller Rahmenbedingungen«. (Fotis Jannidis: »Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext«. In: Ders. u.a. [Hg.]: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 353–389, hier S. 378.) Im Gegensatz zu Heiko Zimmermann: Autorschaft und digitale Literatur. Geschichte, Medienpraxis und Theoriebildung. Trier 2015 gehe ich nicht davon aus, dass Autorschaftsfunktionen in einem Text »verwendet« werden können (vgl. z. B. ebd, S. 227), sondern folge Jannidis dahingehend, dass es sich hierbei um Zuschreibungen des Rezipienten/der Rezipientin handelt, die je nach Anlage des Textes sowie des ihn umgebenden Paratextes mehr oder weniger plausibel und hilfreich für die Lösung interpretativer Probleme sind (vgl. Jannidis: »Der nützliche Autor«, S. 378).
  • 7. Vgl. Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin u. Boston 2007, S. 1.
  • 8. Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 16; vgl. auch Julia Nantke: Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters. Zwischen Transgression und Regelhaftigkeit. Berlin u. Boston 2017, S. 3f.
  • 9. Lev Manovich: »Wer ist der Autor? Sampling/Remixen/Open Source«. In: Ders.: Black Box – White Cube. Berlin 2005, S. 7–28, hier S. 7.
  • 10. Horn: »Multiple Autorschaft« (Anm. 3), S. 311.
  • 11. Beispiele hierfür aus dem deutschsprachigen Raum wären etwa die online veröffentlichten Texte Elfriede Jelineks, literarische Apps beispielsweise von Tilman Rammstedt (Morgen mehr; München 2016) und Franz Friedrich (25052015 Der letzte Montag im Mai; Frankfurt / M. 2017) oder auch die (später als gedruckte Bücher veröffentlichten) Texte von Norman Ohler (Die Quotenmaschine; 1995), Rainald Goetz (Abfall für alle; 1998/99) oder Wolfgang Herrndorf (Arbeit und Struktur; 2010–2013). Vgl. zu Rammstedt und Friedrich auch die Anmerkungen in Kap. 3 und 6.
  • 12. Vgl. Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Frankfurt / M. 2016 sowie spezifisch in Bezug auf die »Kulturtechniken des Lesens und Schreibens« Henning Lobin: »Schreiben nach Engelbart«. In: Dichtung Digital. Journal für Kunst und Kultur digitaler Medien 44 (2014) http://www.dichtung-digital.de/journal/aktuelle-nummer/?postID=2514 (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 13. Vgl. Manovich: »Wer ist der Autor« (Anm. 9).
  • 14. Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin u. Boston 2007, S. 14 und 20f.
  • 15. Ebd., S. 21.
  • 16. Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 198–229, hier S. 215.
  • 17. Martus: Werkpolitik (Anm. 14), S. 17.
  • 18. Vgl. Hartling: Der digitale Autor (Anm. 1), Kap. 8.
  • 19. Vgl. Zimmermann: Autorschaft (Anm. 6), Kap. II.4.
  • 20. Hartling privilegiert den/die Autor_in als Akteur_in gegenüber dem Text als Produkt von Schreibweisen und kommt deshalb häufig zu deutlich anderen Ergebnissen, als dies hier der Fall ist. Für meine Perspektivierung von Autorfunktionen bildet beispielsweise der Umstand, dass die Vervielfältigung von Autorschaft nicht dem Willen aller Beteiligten entspricht, kein Ausschlusskriterium.
  • 21. Vgl. zum Terminus »Mitschreibeprojekt« u. a. Winko: »Literatur« (Anm. 2), S. 7. Eine Zwischenstufe bilden Projekte wie Tausend Tode schreiben des Frohmann-Verlags (Berlin; seit 2014), bei denen eine literaturbetriebliche Instanz einen eher weiten thematischen Rahmen vorgibt, zu dem unabhängige Beiträge eingereicht werden können, aus denen die initiierende Instanz eine Auswahl für die Publikation trifft.
  • 22. Diese Kategorien bewegen sich zwischen der von Hartling: Der digitale Autor (Anm. 1), S. 267 identifizierten 3. und 4. Stufe kollaborativer Autorschaft. Die Unterscheidung in Kooperationen, Partizipation und Kollaborationen orientiert sich an der Typologie in Christiane Heibach: Literatur im elektronischen Raum. Frankfurt / M. 2003, S. 207.
  • 23. Ebenfalls in ›Echtzeit‹ publizierte der Hansa-Verlag 2016 den Roman Morgen mehr, der allerdings eindeutig dem singulären Autor Tilman Rammstedt zugeordnet ist und zudem in Form einer käuflich zu erwerbenden App mit begleitender Internetseite (sowie mittlerweile als gedrucktes Buch) publiziert wurde (vgl. https://www.hanser-literaturverlage.de/aktuelles/tilman-rammstedt-morgen-mehr, zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 24. Vgl. https://www.hundertvierzehn.de/artikel/zwei-mädchen-im-krieg-ein-mosaik-roman_796.html (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 25. Ebd.
  • 26. Zu den genannten Autorfunktionen vgl. Jannidis »Der nützliche Autor« (Anm. 6), S. 378.
  • 27. Der Roman der Zwölf von H. Bahr, O. J. Bierbaum, O. Ernst, H. Eulenburg, H. H. Ewers, G. Falke, G. Hirschfeld, F. Hollaender, G. Meyrink, G. Reuter, O. Wohlbrück und E. von Wolzogen. Berlin 1909.
  • 28. Vgl. hierzu z. B. den Kommentar Thomas von Steinaeckers zur ersten Woche: »Ich hätte mal eine konkrete handwerkliche Beobachtung: Auffallend und interessant ist ja, das ihr alle drei, Jakob, Jan und Fridolin, in einem mündlichen Modus schreibt – der aber bei jedem von euch vollkommen unterschiedlich ausfällt. Wie geht ihr da vor? Ich stelle an mir selbst fest, dass diese ausgestellte Sprechsprache immer wie in Anführungszeichen wirkt und ihr Gemachtsein ausstellt.« (https://www.hundertvierzehn.de/artikel/zwei-mädchen-im-krieg-die-erste-woche_798.html, zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 29. Vgl. zum letzten Punkt z. B. den Kommentar zur zweiten Woche von Friedolin Schley mit der zentralen Frage »Kann/soll/darf die Literatur angesichts eines so, nun ja, ›heiklen‹ Themas mehr, als virtuos jonglierender Landvermesser eines zwangsläufigen Scheiterns zu sein?« (https://www.
    hundertvierzehn.de/artikel/zwei-mädchen-im-krieg-die-zweite-woche_708.html
    , zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 30. https://www.hundertvierzehn.de/artikel/zwei-mädchen-im-krieg-die-dritte-woche_807.html (zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Einen ähnlichen reflexiven ›Einbruch‹ in die Narration beschreibt Roberto Simanowski: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt / M. 2002, S. 30f. für das Mitschreibeprojekt Beim Bäcker (1996–2000).
  • 31. Vgl. hierzu den ersten Kommentar Rögglas zur ersten Woche, der auch die Unsicherheit gegenüber dem medialen Format zum Ausdruck bringt: »Werde ich – denn jeder der Schreibenden hat wohl Zugriff auf meinen Text – gleich durchgestrichen, überschrieben, umgeschrieben?«
  • 32. Ein ähnliches Phänomen lässt sich anhand von Alban Nikolai Herbsts Blog Die Dschungel. Anderswelt (https://dschungel-anderswelt.de, zuletzt eingesehen am 01.06.2018) beobachten, der den ›fiktionalisierten‹ Status seiner poetisch-poetologischen Reflexionen bereits durch den Titel zum Ausdruck bringt. Eine Multiplikation von ›Autorschaft‹ im Sinne einer Kommunikation mit mehreren Teilnehmern kommt hier – ebenso wie auf der begleitenden Homepage zu Rammstedts Morgen mehr – allerdings erst durch die für alle angemeldeten Rezipienten nutzbare Kommentierungsfunktion zustande, deren Nutzung tatsächlich immer wieder zu dialogischen Situationen führt(e). Hierbei ist jedoch die Hierarchie zwischen Autor und Kommentierenden deutlich markiert, indem Herbst und Rammstedt eindeutig als singuläre ›Autoren‹ ausgewiesen sind.
  • 33. Dazu passt auch die in der ›Einleitung‹ zur dritten Woche angekündigte Veranstaltung, auf der »Initiator Thomas von Steinaecker und die Autoren Jan Brandt und Juan S. Guse über den Verlauf des Experiments diskutieren« und die ebenfalls in hundertvierzehn dokumentiert ist: https://www.hundertvierzehn.de/artikel/zwei-mädchen-im-krieg-die-abschlussveranstaltung_866.html (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 34. Hartling: Der digitale Autor (Anm. 1), S. 275 interpretiert eine solche Nennung der individuellen Autornamen hingegen als »Verweis auf einen traditionellen, starken Autorbegriff«.
  • 35. Hartling, ebd. S. 279, benennt dies als Spezifikum kollaborativer Autorschaft.
  • 36. So verweist Lobin: »Schreiben« (Anm. 12) darauf, dass im Gegensatz zu dem hier verhandelten Projekt »im Chat [...] kein Text produziert [wird], allenfalls das automatisch aufgezeichnete Protokoll der einzelnen Beiträge könnte man als eine Art Produkt ansehen«. Vgl. zur Transgression dieser Differenzierung allerdings auch das im Folgenden unter Abschnitt 5 diskutierte Projekt Zwirbler.
  • 37. http://www.drachental.de/ijamacar/im_index.htm (seit 1999) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 38. https://web.archive.org/web/20070314051902/http://www.zauberfee.de:80/zauberbuch/caala~elen/index.htm (1999–2017) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 39. Beispielsweise bittet Zauberfee die Mitschreibenden im Vorwort zu Caala-Elen aufgrund des spezifischen interaktiven Elements der Perlensuche darum, »keine Folge zu schreiben, in der ihr plötzlich eine Perle findet, ohne dass ihr euch mit Dem Weisen Orca unterhalten habt«. Eine stärkere Hierarchisierung in Form von vorgegebenen Erzählabschnitten, die von den Mitschreibenden als Ergänzung zu den vom Hauptautor verfassten Teilen ausgearbeitet werden können, beschreibt Lobin: »Schreiben« (Anm. 12) für die Fanfiction zum Fantasy-Roman Kingdom Keepers.
  • 40. Tatsächlich wurde das Mitschreibeprojekt Die Perlen von Caala-Elen im Laufe der Arbeiten an diesem Beitrag offensichtlich endgültig beendet. Während die Webseite bei Abgabe der ersten Version dieses Textes noch bestand, ist sie aktuell (am 29.05.2018) nur noch über das Internet-Archiv Wayback Machine zugänglich. In Bezug auf das hier verhandelte Thema der Werkhaftigkeit digitaler Literatur verweist dieser keinesfalls singuläre Umstand auf ein Spezifikum digitaler Literatur: Der Akt der Veröffentlichung stellt hierbei keine unrevidierbare Entscheidung dar. Wird eine solche Entscheidung in Bezug auf analoge Literatur produktionsästhetisch als ein zentrales Merkmal für den Werk-Status gewertet (vgl. Carlos Spoerhase: »Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen«. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 276–344, hier S. 288), kann sie für digitale Texte ebenso wieder zurückgenommen werden. Dies wirft die Frage auf, inwieweit ein ausschließlich im Archiv fortlebender Text weiterhin als Werk verstanden werden kann oder ob es dafür der erneuten Instanziierung in Form einer ›offiziellen‹ Publikation bedürfte.
  • 41. Allerdings gibt es Mitschreibeprojekte wie bspw. jene auf dem Portal FanFiktion.de, bei denen die jeweiligen Autor_innen die Möglichkeit haben, die eigenen Beiträge zu kommentieren, was Sichtbarkeit und entsprechend eine Inszenierung im begrenzten Rahmen eher ermöglicht.
  • 42. Foucault: »Autor« (Anm. 16), S. 210.
  • 43. Im Gegensatz dazu beschreibt Hartling: Der digitale Autor (Anm. 1), S. 275 wie beim Mitschreibeprojekt Beim Bäcker der Bekanntheitsgrad der Initiatorin Claudia Klinger dazu führt, das letztere »immer im Fokus der Rezensenten« blieb und »Klinger schließlich dennoch als Quasi-Autorin des Werkes im Literaturkanon verankert« war. Dies verweist auf Spannungen zwischen digitaler Schreib- und analoger Kanonisierungspraxis, die auch im nächsten hier diskutierten Beispiel sichtbar werden. Simanowski: Interfictions (Anm. 30), S. 27–32, hier S. 45 zeigt hingegen – ebenfalls anhand von Beim Bäcker – , dass die Sichtbarkeit der Mitschreibenden auch von deren sonstigen digitalen Aktivitäten bzw. deren Ambitionen zur Inszenierung abhängt (sowie, dass der thematische Rahmen des Projekts offensichtlich nicht auf Klinger zurückgeht).
  • 44. https://web.archive.org/web/20070314051902/http://www.zauberfee.de:80/za... (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 45. Dass eine geringe Einschränkung zum völligen Auseinanderfallen der narrativen Kohärenz des Textes führen kann, beschreibt Zimmermann: Autorschaft (Anm. 6), S. 199 für das Mitschreibeprojekt A Million Penguins (2007, initiiert vom Penguin Verlag): »Setting, Plot und Figuren sind so chaotisch, dass sie sich kaum kohärent und umfassend beschreiben lassen.« Zu fragen wäre allerdings, wie sich diese Feststellung zu dem von Simanowski ausgemachten »vierfachen Feindbild« des postmodernen Romans »›Plot‹, Charakter, Schauplatz und Thema« verhält. Vgl. Roberto Simanowski: »Autorschaft und digitale Medien«. In: Lucas Marco Gisi u. a. (Hg.): Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview, S. 247–262, hier S. 249.
  • 46. Fanfictions stellen nach Simone Winko ein eigenes, genuin netzbasiertes Genre dar, das sich dadurch auszeichnet, dass die Verfasser_innen »Figuren und fiktive[] Welten vorliegender Werke [nutzen], in dem sie diese modifizieren bzw. als Material verwenden, um eigene Geschichten zu erfinden«. Winko: »Literatur« (Anm. 2), S. 6.
  • 47. Im Gegensatz dazu sind die Fanfictions, die sich auf den Inhalt eines konkreten Werks als Vorlage beziehen, häufig auch in stilistischer Hinsicht durch Imitationsversuche geprägt. Hiervon zeugen z. B. die Kommentare zu Erweiterungen von Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame, in denen regelmäßig die gelungene Stil-Imitation gelobt wird (vgl. z. B. https://www.fanfiktion.de/r/s/4c94e9490000fe0f06702af8/date/1/1, zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 48. https://web.archive.org/web/20021201214339/http://netzwerke.textbox.de:80/llacaan/ (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 49. Caala-Elen hingegen knüpft im Prolog auch narrativ an den 1. interaktiven Netzroman Die Säulen von Llacaan (1999–2005) an, der auch die anagrammatische Beziehung der Titel Caala-Elen und Llacaan aus der Handlung erklärt (vgl. https://web.archive.org/web/20070314051902/http://www.zauberfee.de:80/zauberbuch/caala~elen/index.htm#legende, zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Einzelne narrative Verknüpfungen von Caala-Elen und Magische Welt werden in den ›Inhaltsverzeichnissen‹ deutlich: https://web.archive.org/web/20070314051922/http://www.zauberfee.de:80/zauberbuch/caala~elen/caala~elen.htm (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 50. Für den »1. Netzroman« gestaltet sich die Situation allerdings etwas anders, indem hier der Initiator mit Klarnamen adressiert wird. So heißt es auf der Startseite von Magische Welt: »Erlaubt mir bitte zunächst darauf hinzuweisen, daß Ihr unter den folgenden Links den ersten Netzroman von Roger Nelke findet, quasi den Ur-Netzroman, der ›Íja Macár‹ (ausgenommen der völlig eigenständigen Welt) als Vorbild diente: Die Säulen von Llacaan... und außerdem Llacaans Schwester-Projekt Die Perlen von Caala~Elen, den zweiten interaktiven Netzroman von der Zauberfee. Bitte besuchen!«
  • 51. Carlos Spoerhase nennt als einschlägige Kriterien für den Werkstatus eines Textes den Titel, den Veröffentlichungsakt, die Autorabsicht sowie den Geschlossenheits- bzw. Vollendungsgrad (Spoerhase: »Werk« [Anm. 40], S. 288).
  • 52. Vgl. hierzu auch Julia Nantke: »Tausend Tode, tausend Autoren, tausend Texte? Der Einfluss digitaler Literatur auf die Konzeptionierung von ›Text‹« (erscheint 2018 im Rahmen der Publikation zum literaturwissenschaftlichen DFG-Symposium »Digitale Literaturwissenschaft«).
  • 53. Foucault: »Autor« (Anm. 16), S. 210.
  • 54. https://www.facebook.com/Zwirbler.Roman/ (zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Ich danke Julia Menzel für den Hinweis auf das Projekt.
  • 55. Diese ›Spielregeln‹ werden wiederum auf der Facebook-Seite unter dem Reiter »Zwirbler – Anleitung« von Teglasy erklärt.
  • 56. Foucault: »Autor« (Anm. 16), S. 215.
  • 57. Dominanter erscheint der Autor Thomas Lang in dem ebenfalls als Netzroman zum Mitschreiben annoncierten, 2017 beendeten Text Der gefundene Tod: Die zugehörige Webseite spricht den Leserinnen und Lesern zwar die Co-Autorschaft zu, indem sie ebenfalls »die Entwicklung der Geschichte kommentieren, mit dem Autor offene Fragen diskutieren und eigene Ideen und Textentwürfe beisteuern« können. Die inhaltliche Ausgestaltung des Textes ist aber sehr viel stärker durch den Autor bestimmt (vgl. http://netzroman.thomaslang.net/mitschreiben-in-echtzeit/, zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Für das ähnlich angelegte, von Toby Litt initiierte Projekt Slice (2008) stellt Zimmermann: Autorschaft (Anm. 6), S. 231 fest: »Hier wird dem Leser vorgegaukelt, er könne während der Erzählzeit durch seine Kommentare Einfluss auf den Text nehmen. Doch dieser weicht nicht von seinem Skript ab.« Dies zeigt erneut die Skala möglicher Hierarchieverhältnisse zwischen Initiator_in und Autor_innen.
  • 58. Das Buch erschien Ende 2014 Crowdsourcing-finanziert beim kladdenbuchverlag. Auf der Facebook-Seite wurde mit dem Spruch »Ohne Dich gibt es kein Ende des Romans« zum Spenden aufgerufen. Die Publikation erfolgte nicht nur als Buch, sondern zusätzlich im Format dreier Klopapierrollen, was den potentiell endlosen Pageflow von Facebook in ironischer Brechung in eine Art prä-kodikolo-gisches Tora-Format überträgt.
  • 59. Vgl. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geiste der Goethezeit. Paderborn u. a. 1981.
  • 60. Mit Manovich ist allerdings zu präzisieren, dass die Software hinter Facebook natürlich von Menschen entworfen ist »und daher wäre es genauer, zu sagen, dass der Autor, der elektronische oder Software-Werkzeuge benutzt, einen Dialog mit den Software-Entwicklern beginnt« (Manovich: »Wer ist der Autor« [Anm. 9], S. 13).
  • 61. Auf der Webseite von 0x0a findet sich die Programmatik unter dem Reiter »These« und wird zudem in Kurzform auf jeder der besuchten Unterseiten eingeblendet. Bei ANd-OR wird das gemeinsame Programm unter »about« dargestellt.
  • 62. http://0x0a.li/de/these/ (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 63. http://www.and-or.ch/about.php (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 64. Vgl. hierzu Hannes Bajohr: »Das Reskilling der Literatur. Einleitung zu Code und Konzept«. In: Ders. (Hg.): Code und Konzept. Literatur und das Digitale. Berlin 2016, S. 7–21 sowie zu den weiteren Konsequenzen dieser »Technikästhetik« Simanowski: Interfictions (Anm. 30), S. 146–153.
  • 65. http://www.nanorunners.com (2013) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 66. http://www.pikselbacteria.ch (2012) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 67. Das Spezifikum dieser Perspektivverschiebung im Rahmen der Autorenkollektive illustriert z. B. die bei S. Fischer erschienene literarische App 25052015 Der letzte Montag im Mai, für die als Autor – gemäß dem analogen Paradigma singulären Schöpfertums – lediglich der Verfasser der menschenlesbaren Texte, Franz Friedrich, angegeben ist. Die Arbeit des Programmierers Fabian Dussig, welche insbesondere für die Strukturierung und Gestaltung einer nonlinearen App ebenfalls als künstlerische Leistung gewertet werden könnte, wird hingegen nicht einmal im Impressum der App erwähnt. Dussig erscheint dann auch im Interview mit dem Autor lediglich als ›Hilfsarbeiter‹, der die Vorstellungen des Autors möglichst adäquat umgesetzt hat (vgl. das Interview mit Franz Friedrich in Hundertvierzehn. Das literarische Onlinemagazin des S. Fischer Verlags https://www.hundertvierzehn.de/artikel/der-
    letzte-montag-im-mai_2090.html
    , zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Vgl. zu gegenläufigen Tendenzen auch die Anmerkungen von Zimmermann: Autorschaft (Anm. 6), S. 179f.
  • 68. Hier wird eine entscheidende Differenz zu modernen Montage-Texten wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (Berlin 1929) oder Peter Weiss’ Die Ermittlung (Frankfurt / M. 1965) sichtbar: Während bei letzteren die Auswahl der Fragmente stets auf die Autoren zurückzuführen war, gilt dies nicht mehr in demselben Maße, wenn Algorithmen diese übernehmen (vgl. auch Simanowski: »Autorschaft« [Anm. 45], S. 253).
  • 69. http://0x0a.li/de/text/durchschnitt/ (2015) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Vgl. insbesondere in Bezug auf das Phänomen Schreibweise auch den produktionspraktisch an Theo Lutz’ stochastische Texte anschließenden Text Germania Markoviana (2017) des Kollektivs, für den mithilfe eines Python-Scripts unter Verwendung eines Markovketten-Algorithmus die »Schreibart« des rechtsnationalen Blogs sezession.de generativ simuliert wurde. »Das Ergebnis des Skripts sind Sätze, die nichts oder nur wenig bedeuten, aber dennoch den Sound der sezession.de-Autoren transportieren.« (http://0x0a.li/de/text/germania-markoviana/, zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 70. Simanowski: »Autorschaft« (Anm. 45), S. 252 spricht in Bezug auf  die »vielen Projekte[], die die kommunikativen Abfälle des Internet sammeln und dem Leser als Textgeflecht präsentieren«, von »Mitschreibeprojekten, deren Teilnehmer gar nichts von ihrer Teilnahme wissen«.
  • 71. Jannidis: »Der nützliche Autor« (Anm. 6), S. 387.
  • 72. Vgl. ebd., S. 381 und 387.
  • 73. Annette Gilbert betont allerdings, dass die vielen Vorentscheidungen, die bei der Programmierung von Bots und Algorithmen in Bezug auf die automatisierte Auswahl getroffen werden, sehr wohl auktoriale Gestaltungsmacht implizieren (vgl. Annette Gilbert: »›Möglichkeiten von Text im Digitalen‹. Ästhetische Urbarmachung von korpuslinguistischen Analysetools und Bots in der generativen Literatur der Gegenwart am Beispiel des Textkollektivs 0x0a«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 91.2 [2017] https://doi.org/10.1007/s41245-017-0038-y).
  • 74. Dies gilt für sämtliche Werke von ANd-OR. Bei 0x0a lassen sich die Autorschafts-Angaben zu den einzelnen (kollaborativ oder singulär verantworteten) Werken im Sinne von Verfasserangaben für die technischen Skripte verstehen.
  • 75. http://0x0a.li/de/text/glaube-liebe-hoffnung/ (2015) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 76. Eine ähnliche Spannung zwischen kollektiver Inszenierung und Sichtbarkeit der einzelnen Akteure stellt Manovich: »Wer ist der Autor« (Anm. 9), S. 26 auch für die Kollektive jodi.org und Etoy fest.
  • 77. Vgl. hierzu ausführlicher Nantke: »Tausend Tode« (Anm. 52).
  • 78. https://whitney.org/Exhibitions/Artport/DouglasDavis (seit 1994) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 79. https://auer.netzliteratur.net/logbuch/abfrage_logbuch.php (seit 2002) (zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Das weitgehende Fehlen derartiger Projekte im deutschsprachigen Raum konstatiert bereits Heibach: Literatur (Anm. 22), S. 173, die hierfür die »starke Bindung der deutschen Kultur an die durch den Buchdruck ausgebildeten Normen« als Begründung anführt.
  • 80. Vgl. zu Urheberrechtsfragen im Zusammenhang mit der Automatisierung von ›Schreibprozessen‹ im Rahmen maschinengenerierter Texte Gilbert: »Möglichkeiten« (Anm. 73) sowie allgemein Zimmermann: Autorschaft (Anm. 6) Kap. IV.4
  • 81. Simanowski: »Autorschaft« (Anm. 45), S. 251.
  • 82. Vgl. zur Spannung zwischen Vorgaben und Realisierung in Mitschreibeprojekten auch Simanowski: Interfictions (Anm. 30), S. 45.
  • 83. Vgl. Ralf Klausnitzer: »Autorschaft und Gattungswissen. Wie literarisch-soziale Regelkreise funktionieren«. In: Schaffrick u. Willand (Hg.): Theorien und Praktiken (Anm. 5), S. 197–234, hier, S. 209.
  • 84. Von den dabei auftretenden Problemen zeugt auch die Typologie in Hartling: Der digitale Autor (Anm. 1), S. 47, in der sich bereits in der Benennung Autorschaftskonstellationen und textuelle Charakteristia mischen.
  • 85. Vgl. hierzu auch Uwe Wirth: »Der Tod des Autors als Geburt des Editors«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Digitale Literatur. München 2001, S. 54–64 (Text + Kritik, Bd. 152).
  • 86. Entsprechend stellt Pawlicka für die aktuelle Forschung zur digitalen Literatur die Relevanz der ›Rolle des Mediums‹ und damit in Zusammenhang, der Materialität heraus: »[T]he electronic text does not immaterialize the text; on the contrary, it focuses our attention to the materialization of text through the enhancing of the role of medium.« (Urszula Pawlicka: »Towards a History of Electronic Literature«. CLCWeb: Comparative Literature and Culture 16.5 (2014): Special Issue New Work on Electronic Literature and Cyberculture http://docs.lib.purdue.edu/clcweb/vol16/iss5/2 (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 87. Zur historischen Entwicklung dieser »Stabilisierungsfunktion des Werks« vgl. Martus: Werkpolitik (Anm. 14), S. 16f.
  • 88. Vgl. Christiane Heibach: »The Distributed Author. Creativity in the Age of Computer Networks«. In: Dichtung Digital, 2.12 (2000) http://www.dichtung-digital.de/2000/Heibach/23-Aug/ (zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Heibachs Schlussfolgerung, dass »complexity, beauty of language, innovative treatment of plot or language« für digitale Projekte mit multipler Autorschaft unwichtig sind, deren Ergebnisse eher einem ephemeren Spiel, denn einem Werk gleichkommen, wird hier allerdings nicht geteilt. Vielmehr zeigen die analysierten Beispiele auch in Bezug auf diese Parameter eine Vielfalt sowie systematische Strategien der Referenzstiftung, die eine differenzierte Betrachtung sprachlicher und gestalterischer Merkmale der im Zuge der offenen Produktion entstehenden Werke bedingen.
  • 89. Zimmermann macht deutlich, dass diese Dispersion nicht mit Foucaults Konzept der »Ego-Pluralität« (Foucault: »Autor« [Anm. 16], S. 217) zu fassen ist, welches sich auf eine »pluralitiy of egos of one voice« bezieht, während sich im Zuge der Vervielfältigung von Autorschaft in der digitalen Literatur auch die Stimmen pluralisieren (Heiko Zimmermann: »Electronic Literature and Its Departure from the Primacy of the Author Function«. In: Andrea Selleri u. Philip Gaydon (Hg.): Literary Studies and the Philosophy of Literature: New Interdisciplinary Directions. Cham 2016, S. 243–266, hier S. 261)
  • 90. Zimmermann: Autorschaft (Anm. 6), S. 135 geht davon aus, dass wenn sich die Foucault’schen »Erklärungsmuster« des Autor-Konzepts – »Autorschaft konstruiert eine Einheit des Schreibens, löst Widersprüche auf und stellt eine Art Brennpunkt des Ausdrucks dar« – nicht plausibel auf digitale Literatur anwenden lassen oder gar unnötig sind, »wohl auch nicht von Autorschaft gesprochen werden« kann.
  • 91. Martus: Werkpolitik (Anm. 14), S. 12.
  • 92. So Martus, ebd., S. 38f., in Bezug auf »die gängige Verwendungspraxis des Begriffs«.
  • 93. So Zimmermann: Autorschaft (Anm. 6), S. 228 in Bezug auf die von ihm untersuchten Beispiele digitaler Literatur.
  • 94. Vgl. hierzu auch Zimmermann: »Electronic Literature« (Anm. 89), S. 260.
  • 95. Vgl. z. B. das kollaborative Annotationsprojekt SANTA (https://sharedtasksinthedh.github.io, zuletzt eingesehen am 01.06.2018) sowie die Annotationsplattform genius.com. Jenseits der Gemeinsamkeiten in Kollaborativität und freier Zugänglichkeit gilt es hierbei allerdings wiederum projektspezifisch Zielsetzungen und Ansprüche hinsichtlich Wissenschaftlichkeit und Transparenz sowie – den literarischen Beispielen vergleichbar – die Zugangsmöglichkeiten für Mitschreibende zu differenzieren.
  • 96. Vgl. hierzu z. B. das Konzept der Social Edition of the Devonshire MS (https://en.wikibooks.org/wiki/The_Devonshire_Manuscript/A_Note_on_this_Edition, zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 97. Vgl. für eine differenzierte Betrachtung weiterer Formen digitaler wissenschaftlicher Kollaboration Thomas Ernst: »Vom Urheber zur Crowd, vom Werk zur Version, vom Schutz zur Öffnung? Kollaboratives Schreiben und Bewerten in den Digital Humanities«. In: Constanze Baum u. Thomas Stäcker (Hg.): Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities 2015 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften; 1) DOI: 10.17175/ sb001_021, Abschn. 4.
  • 98. Vgl. zur Divergenz der literarischen Diskurse des 17./18. bzw. 19./20. Jahrhunderts in Bezug auf die An- und Abwesenheit von Akteuren Bosse: Werkherrschaft (Anm. 59), S. 17–24.
  • 99. In dieser Hinsicht haben sich allerdings in Bezug auf die literarischen Beispiele je nach Publikationsrahmen durchaus Unterschiede gezeigt. Insbesondere in Bezug auf die wissenschaftliche Meta-Kommunikation gestaltet sich die Lage zudem aufgrund forschungsethischer sowie reputationsmäßiger Faktoren deutlich komplexer. Vgl. hierzu ausführlich Ernst: »Vom Urheber« (Anm. 97).
  • 100. Martus: Werkpolitik (Anm. 14), S. 8.
  • 101. Foucault: »Autor« (Anm. 16), S. 211f. beschreibt in diesem Zusammenhang, wie die Rede im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert von einem »Akt«, der »kein Produkt, keine Sache, kein Gut« war, zu »einem Gut im Einzugsbereich des Eigentums wurde«. Vgl. dazu auch Bosse: Werkherrschaft (Anm. 59), S. 7–16. In den aktuellen Diskussionen und rechtlichen Novellen geht es denn auch nicht darum, die Urheberschaft eines Aktes der Äußerung in Frage zu stellen, sondern vielmehr den daran geknüpften Eigentumsstatus hinsichtlich der Nachnutzung zu lockern.
  • 102. Vgl. hierzu die Meldung des BMBF vom 28.02.2018 https://www.bmbf.de/de/neues-
    urheberrechtsgesetz-fuer-die-wissenschaft-4431.html
    (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).
  • 103. Ugresic verweist zudem auf die verlagsseitige Institutionalisierung von Mashups kanonisierter Geschichten (Pride and Prejudice and Zombies, Alice in Zombieland u. ä.) sowie von Twitterature in Anlehnung an digitale Schreibpraktiken (vgl. Dubravka Ugresic: Karaokekultur. Berlin 2010, S. 93 und 100).
  • 104. Vgl. hierzu Stalder: Digitalität (Anm. 12), S. 126f. sowie exemplarisch Gerhard Fischer u. Florian Vassen (Hg.): Collective Creativity. Collaboratve Work in the Sciences, Literature and the Arts. Amsterdam u. New York 2011 und die Tagung Werke in Netzwerken. Kollaborative Autorschaft im 18. Jahrhundert, 13.–15.11.2017 Bielefeld, H-Soz-Kult, 02.11.2017, www.hsozkult.de/event/id/termine-35600 (zuletzt eingesehen am 01.06.2018). Ich danke Claudia Brandt für den Hinweis auf diese Veranstaltung.
  • 105. Dies gilt beispielsweise für den 2017 im Arco Verlag erschienenen Band Chamber music/Kammermusik. Nachdichtungen, der neben den Texten aus dem Frühwerk von James Joyce zwei Übersetzungen von Alban Nicolai Herbst und Helmut Schulze als gleichberechtigte Alternativen präsentiert, sowie für die aktuell in Bern erarbeitete Parzival-Edition. Auch die Edition von Niklas Luhmanns Zettelkasten (Bielefeld u. Köln) sowie die Integration von Notizbüchern und Bibliotheken in Editionsprojekte (z. B. bei Beckett, Wittgenstein, Nietzsche) stellen die vielfältigen Einflüsse anderer Texte und Autoren auf ein vermeintlich originelles Werk aus.
  • 106. Ich danke Svetlana Efimova und Thomas Ernst für ihre kritische und konstruktive Lektüre sowie hilfreiche Anregungen zu diesem Beitrag.

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